Großwerden ist keine kleine Aufgabe: Kinder durchlaufen in ihrer Entwicklung viele turbulente Phasen, in denen sich Körper und auch die Psyche massiv verändern. Und bei jedem kleinen Menschen läuft das ein bisschen anders ab. Das schlägt sich auch im Verhalten nieder. (K)Ein Grund zur Sorge?

Ein Beitrag von Anke Breitmaier

Bei Tim fing es im Kindergarten an. Beim Spielen machte er meistens nicht mit, hielt sich von den anderen Kindern fern und verzog sich am liebsten mit einem Buch in eine stille Ecke.

Putzig fanden das die Erzieherinnen zunächst – denn der etwas pummelige Tim mit seinem blonden Lockenschopf und den großen blauen Augen war einfach zu drollig. Als Schüchternheit wurde sein Verhalten gedeutet, seine ruhige Art geschätzt. „Der Tim ist ein ganz Lieber!“, wurde der kleine Junge gelobt, weil er nicht so laut und ungestüm war wie andere Buben in seinem Alter.

Wenn hinter dem Verhalten mehr steckt
Doch Tim wurde zunehmend verschlossener, lachte nie, sprach immer weniger. Und irgendwann wurde dann doch allen klar: Hier stimmt etwas nicht. Dass Tim immer trauriger wurde, hatten auch seine Eltern bemerkt – Tim fand keinen Kontakt zu anderen Kindern, zuhause zog sich der Fünfjährige ebenfalls immer mehr zurück, klagte oft über Bauchweh und entwickelte massive Schlafprobleme.

Nach einem Gespräch mit den Erzieherinnen beschlossen die Eltern, mit Tim zum Kinderarzt zu gehen. Er erkannte sein auffälliges Verhalten als Ausdruck einer depressiven Episode. Die Eltern fielen aus allen Wolken, denn damit hätte niemand gerechnet.
Heute ist Tim 16 Jahre alt und es geht ihm gut. Ein Kinderpsychologe unterstützte ihn in seiner Entwicklung. In einer Kunsttherapie lernte Tim, spielerisch mit seinen Gefühlen besser umzugehen. Seine blonden Locken hat er noch – aber seine Schwermut ist weg.

Was heißt denn hier auffällig?!
Dass auch Kinder schon unter Depressionen leiden oder einen Burnout haben können, wissen viele nicht. Doch zunehmend häufiger erwischt es auch die Kleinen – vor allem um das 11. Lebensjahr herum nehmen psychische Störungen proportional zu.

Und oft beginnt das mit Auffälligkeiten im Verhalten: Das Kind zieht sich wie Tim immer mehr zurück, verliert die Freude an allem und entwickelt Ängste. Oder es reagiert auf normale Situationen übertrieben aggressiv, eckt bei anderen an und kann seine Emotionen nicht kontrollieren.

Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland

Studien gehen davon aus, dass zwischen 10 und 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Probleme aufweisen.
Untersuchungen deuten darauf hin, dass zwischen 15 und 22 Prozent der Kinder in den letzten sechs Monaten psychische Störungen zeigten.
Als häufigstes Störungsbild werden Angststörungen genannt, gefolgt von aggressiv-dissozialen Störungen sowie depressive Störungen und hyperkinetische Störungen,
wie beispielsweise ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).

Nach der jüngsten Erhebungswelle der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) besteht bei gut einem Fünftel der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren ein Risiko für psychische Auffälligkeiten. Dabei sind Jungen deutlich häufiger betroffen als Mädchen.

Egal, wie sie sich äußern, für alle Verhaltensauffälligkeiten gilt: Die betroffenen Kinder beeinträchtigen sich durch ihr Sozialverhalten selbst in ihrer Entwicklung und bekommen dadurch Probleme in ihrem Umfeld. Mit der Folge, dass es in der Familie, in Kita oder Schule vermehrt zu Konflikten kommen kann.

Überfordert, unsicher, auffällig
Mal total laut, dann rotzfrech, aber vor dem Schlafengehen wieder handzahm und sehr anhänglich? Jedes Kind benimmt sich mal auffällig, ebenso wie Erwachsene. Stimmung, Gefühlsleben und Konzentration sind im Alltag vielen Einflüssen unterworfen.

Alle Kinder benehmen sich dann bisweilen auch mal daneben oder so, dass es anderen unangenehm auffällt. Das kann eine vorübergehende „schwierige“ Phase sein, oder nur in bestimmten Situationen auftreten. Bisweilen ist es auch eine Typ- und Persönlichkeitsfrage.

Aufmerken sollten Eltern aber, wenn problematische Verhaltensweisen nicht die Ausnahme sind, sondern zur Regel werden oder wenn eine plötzliche Veränderung im Auftreten des Kindes ohne ersichtliche Ursache festzustellen ist. Auch phasenweise Verhaltensauffälligkeiten sollte man beobachten und im Gespräch mit dem Kind bleiben.

Ist das dann normal oder schon auffällig?
Eindeutig lässt sich diese Frage nicht immer beantworten. Denn was beim Verhalten normal beziehungsweise angemessen ist, ist durchaus Interpretationssache.

Gemeinhin wird Verhalten als normal bezeichnet, wenn viele Menschen sich in dieser Art und Weise verhalten. Als verhaltensauffällig wird ein Kind in der Regel dann eingestuft, wenn es sich oft erheblich anders verhält als die meisten Kinder seines Alters in gleichen oder ähnlichen Situationen.

Aber da jeder Mensch, jede Situation und auch jede Generation anders ist, lässt sich normales Verhalten nicht grundsätzlich verallgemeinern. Auch zwischen den Kulturen gibt es große Unterschiede. Aggressive Verhaltensweisen etwa werden in bestimmten Kulturen als Stärke interpretiert und entsprechend gefördert. Bei der Einschätzung des Verhaltens muss man zudem immer das Alter des Kindes einbeziehen. Es gibt altersgerechtes Verhalten, das phasenweise durchaus auffällig werden kann. Ein vierjähriges Kind, das wütend und trotzig reagiert, wenn es seinen Willen nicht durchsetzen kann und Dinge durch die Gegend schmeißt, verhält sich relativ normal für sein Alter. Bei einem älteren Schulkind kann dieses Verhalten allerdings als auffällig bewertet werden.

Normal?! Darauf sollten Sie im Verhalten Ihres Kindes achten

• Ihr Kind zieht sich immer mehr zurück, hat wenig Kontakt zu anderen Kindern und verliert die Freude an Hobbys oder anderen Aktivitäten.

• Wutausbrüche kommen unkontrolliert, Ihr Kind beschädigt Gegenstände, verletzt sich oder andere dabei.

• Sie beobachten an Ihrem Kind selbst schädigende Verhaltensweisen wie etwa intensives Daumenlutschen, Nägelkauen, Haare ausreißen, Zufügen von Schnittwunden oder sonstigen Verletzungen.

• Essstörungen treten auf, Ihr Kind nimmt sehr stark ab oder zu.

• Das selbstunsichere, schüchterne und überängstliche Verhalten Ihres Kindes beeinträchtigt es in seinem Alltag.

• Die Unzugänglichkeit Ihres Kindes führt zu erzieherischen Schwierigkeiten – häufiges Lügen und sehr abwehrendes Verhalten bewirken eine Entfremdung.

Wieso, weshalb, warum?

Kinder sind heute so gesund wie nie zuvor – im körperlichen Sinne. Aber auch sie werden häufiger mit psychischen Herausforderungen konfrontiert. Verhaltensauffälligkeiten selbst sind überaus vielfältig und unterliegen immer vielen Faktoren. Ebenso vielfältig können auch die Gründe für ihr Entstehen sein.

In den meisten Fällen kommen mehrere Ursachen zusammen. Der Schuleintritt oder die Pubertät etwa sind herausfordernde Entwicklungsphasen, in denen sich viel für die Kinder verändert – darauf können sie mit auffälligem Verhalten reagieren.

Auch die Familiensituation spielt eine wesentliche Rolle, wobei es nicht immer um dramatische Ereignisse gehen muss. Schon die Geburt eines Geschwisterchens, ein Umzug oder ein Schulwechsel können so verunsichernd wirken, dass ein Kind mit Verhaltensweisen gegensteuert, die auffallen.

Meist hat dieses unangepasst wirkende Verhalten für die betroffenen Kinder eine ganz bestimmte Funktion. Es soll ihnen dabei helfen, unangenehme Gefühle zu verdrängen, eigene Probleme zu bewältigen oder auch Ängste zu verringern. Ein verunsichertes Kind etwa versucht womöglich, mit seinem sehr aggressiven Auftreten Angstgefühle zu verdrängen.

Vieles ist auch eine Temperamentfrage: Kinder mit einem ausgeprägten Bewegungsdrang beispielsweise reagieren mitunter in ihrem Verhalten auffällig, weil ihnen ein Ventil für ihre Gefühle fehlt. Zudem kann das Verhalten auch dazu dienen, Aufmerksamkeit zu erregen oder Zuwendung einzufordern.

Verhaltensauffälligkeiten …

…  sind laut Definition unspezifische Abweichungen im Sozialverhalten.

› Generell unterscheidet man zwischen externalisierenden und internalisierenden Formen von Verhaltensauffälligkeiten.

› Zappeligkeit, Unruhe, hohe Ablenkbarkeit, Impulsivität und aggressives Verhalten wie Schlagen, Treten von Personen oder das Beschädigen
von Gegenständen gehören zu den externalisierenden Formen. Sie sind beobachtbar, machen sich also als auf andere gerichtete Verhaltensmuster bemerkbar.

› Als internalisierende Formen werden Verhaltensauffälligkeiten bezeichnet, die sich innerlich abspielen, etwa Trennungsängste, Kontaktvermeidung, Überängstlichkeit und depressives Verhalten.

Jede neue Aufgabe braucht neue Verhaltensweisen

Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass jede Lebensphase ein Kind vor neue und ungewohnte Aufgaben stellt. Diese können eine Herausforderung werden, denn ein Kind muss erst noch eine Balance zwischen den Anforderungen, die seine Umwelt an es stellt, und den eigenen Bedürfnissen finden.

Und ein Kind muss im Laufe seines Großwerdens ziemlich viel bewältigen, zum Beispiel wenn es in die Kita oder die Schule kommt, Freundschaften schließt oder erste Erfahrungen mit Trauer macht, wenn etwa der geliebte Familienhund stirbt.

Auch Konflikte in der Familie, Trennungen oder die Krankheit eines Elternteils können ein Kind so belasten, dass es sich in seinem Verhalten verändert. Mitunter kann das ein Versuch sein, mit den bedrückenden Umständen besser umgehen zu können. Angst etwa übertünchen gerade Jungen häufig mit aggressivem, lauten Verhalten. Mädchen dagegen ziehen sich oft in sich selbst zurück.

So kann man sich gut verstehen!

› Zeigen Sie Ihrem Kind die Grenzen akzeptierbaren Verhaltens auf.

› Besprechen Sie mit Ihrem Kind, was genau Sie von ihm erwarten.

› Formulieren Sie Regeln für das Verhalten kurz und prägnant. Lange Diskussionen und Erklärungsversuche bringen meist keinen Erfolg.

› Wenn Sie nur mit Konsequenzen drohen, diese aber nicht durchsetzen, wird Ihr Kind Ihre Aussagen nicht ernst nehmen
und sein Verhalten beibehalten.

› Erwarten Sie nicht zu viel auf einmal. Versuchen Sie zunächst nur eine bestimmte Verhaltensweise oder eine Situation im Tagesablauf zu verändern.

› Setzen Sie den Fokus nicht nur auf unerwünschtes Verhalten. Loben Sie ganz gezielt erwünschtes Verhalten, oder stellen Sie Ihrem Kind eine Belohnung (beispielsweise einen gemeinsamen Ausflug) in Aussicht, wenn es über einen zuvor festgelegten Zeitraum schafft, sich angemessen zu verhalten.

› Achten Sie auf versteckte Belohnungen für unerwünschtes Verhalten. Wenn Sie Ihre Arbeit unterbrechen und sich mit Ihrem Kind beschäftigen, wenn es beispielsweise etwas durch das Zimmer wirft oder irgendeine andere unerwünschte Verhaltensweise zeigt, wird es das in Zukunft wahrscheinlich öfter machen, um sich Ihre Aufmerksamkeit zu sichern.

› Sie sind ein wichtiges Vorbild für Ihr Kind: Bedenken Sie das und versuchen Sie, Verhaltensweisen vorzuleben, mit denen auch Krisen und schwierige Phasen gut zu bewältigen sind.

Quelle: www.elternimnetz.de

Verhaltensauffälligkeiten in Zeiten von Corona

Kein regelmäßiger Schulbetrieb, Freizeitsport fällt weg und Verabredungen mit Freunden sind schwierig, in Lockdown-Phasen hockt die gesamte Familie aufeinander – die Corona-Pandemie hat auch das Leben von Kindern und Jugendlichen extrem ver-
ändert.
Seit Monaten fehlt vielen ein zuverlässiger und geregelter Tagesablauf. Die Kontaktregeln und Ausgangsbeschränkungen bedrücken auch die Kleinen. Das wirkt sich auf ihre psychische Gesundheit und damit auch ihr Verhalten aus, wie Untersuchungen zeigen.

Kinder fühlen sich belastet
So ermittelte die sogenannte Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), für die im Juni 2020 mehr als 1000 Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 17 Jahren sowie 1500 Erwachsene befragt wurden: Die meisten Kinder und Jugendlichen fühlen sich belastet, machen sich häufig Sorgen und leiden unter vermehrten Konflikten in der Familie.

Bei jedem zweiten Kind habe das Verhältnis zu Freunden durch den mangelnden physischen Kontakt gelitten. Mehr als 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen fühlen sich durch die Corona-Krise seelisch belastet. Stress, Angst und Depressionen haben zugenommen.

Risiko für das Verhalten
Das Risiko für psychische Auffälligkeiten habe sich fast verdoppelt, heißt es in der Studie. Die Kinder seien häufiger gereizt, hätten Einschlafprobleme und klagten über Kopf- und Bauchschmerzen.

Jedes vierte Kind berichtet, dass es in der Familie häufiger zu Streit komme als vor der Corona-Krise. Die Eltern geben das sogar noch häufiger an und erklären, dass Streitigkeiten öfter eskalierten. Eine weitere Erkenntnis der Studie: Das betrifft vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien. Die Studie zeigt, dass ein geringes Einkommen der Eltern und beengter Wohnraum das Auftreten psychischer Auffälligkeiten bei Kindern fördern.

Ungesunde Ernährung und wenig Bewegung
In der zweiten Befragung zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 wurde ermittelt, dass fast jedes dritte Kind ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten leidet.

Auch das Gesundheitsverhalten der 7- bis 17-Jährigen hat sich weiter verschlechtert: Der Studie zufolge ernähren sich Kinder und Jugendliche ungesund mit vielen Süßigkeiten. Zudem machen zehnmal mehr Kinder als vor der Pandemie und doppelt so viele wie bei der ersten Befragung überhaupt keinen Sport mehr. Dafür verbringen sie aber wesentlich mehr Zeit mit Handy, Computer oder vor dem Fernseher.

Familie gibt Halt
Die Wissenschaftler stellen fest, dass Kinder, die vor der Pandemie stabil waren, Strukturen erlernt haben und sich in ihrer Familie wohl und gut aufgehoben fühlen, mit den Herausforderungen auch langfristig gut zurechtkommen. Gezeigt habe sich auch, dass Familien, die über einen guten Zusammenhalt berichten und viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, insgesamt besser mit den Belastungen in der Pandemie umgehen können.

Über die Studie

In der COPSY-Studie untersuchen die UKE-Forschenden die Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie auf die seelische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie haben dafür von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021 mehr als 1000 Kinder und Jugendliche und mehr als 1600 Eltern mittels Online-Fragebogen befragt. Mehr als 80 Prozent der befragten Kinder und Eltern hatten bereits an der ersten Befragung im Juni 2020 teilgenommen. Die 11- bis 17-Jährigen füllten ihre Fragebögen selbst aus. Für die 7- bis 10-Jährigen antworteten die Eltern.