Ein Beitrag von Monika Klingemann

Geht es Ihnen auch so? Wenn man den Begriff Sexualerziehung hört, erscheinen vor dem geistigen Auge verschämte Szenen aus dem Bio-Unterricht, mit vergilbten Postern und dem obligatorischen Kondom über der Banane. Und der Begriff Aufklärung erinnert eher an die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Insgesamt klingt all das technisch-kühl, unpersönlich, abstrakt. Was hat das mit der eigenen Familie zu tun?

Sehr viel! Vielleicht scheuen wir uns, beim Thema Sexualität Klartext zu sprechen mit unserem Schatz, der doch noch ans Christkind glaubt und so unbefangen durchs Leben tapst.

Und oft ist es wirklich schwer, die richtigen Worte zu finden. Doch zugleich wollen wir gut informierte Kinder, die ihren Körper kennen und sich wehren können, wenn jemand ihre Grenzen verletzt. Und eigentlich ist das Thema doch eines voller Liebe und persönlicher Geschichten und berührt existenzielle Fragen unseres Seins.
Denn es geht dabei natürlich um viel mehr als die Frage, wie das Baby in Mamas Bauch kommt. Es geht – neben klassischen Aufklärungsthemen von A wie AIDS bis Z wie Zyklus – darum, wie man mit Gefühlen umgeht, wie man Partnerschaft gestaltet, welche Identität ein Mensch hat.

Daher sollte Sexualerziehung ein dauerhafter Prozess sein, kein lästiges To-do, das man noch schnell einschiebt, wenn die Pubertät ansteht. Dann ist es im Übrigen sowieso zu spät und andere Informationsquellen haben längst die Ratgeberfunktion übernommen; Eltern sind dann nur noch uncool und peinlich.

Was Tun?

„Meine kleine Tochter hat neulich im Bad meinen Penis angefasst.“

Dinge, die Eltern unangenehm sind oder ihnen unangemessen vorkommen, sollten sie verweigern: „Ich mag nicht, wenn du meinen Penis anfasst.“ So machen sie klar: Man soll keine Berührungen ertragen, die man nicht mag – genauso wie man Stopp sagt, weil man gerade nicht mehr durchgekitzelt werden will.

Die Sinne entfalten

Die sexuelle Bildung beginnt quasi mit der Geburt. Sie ist eng verbunden mit Vertrauen und Geborgenheit. In der Familie erlebt ein Kind körperliche Nähe, wird gestreichelt und geknuddelt und erfährt: Ich werde so angenommen, wie ich bin. Wenn es ohne Windel strampeln, mit den Eltern oder Geschwistern baden und seine Nacktheit genießen darf, kann es seinen Körper intensiv erleben und erkunden. Hier wird der Grundstein gelegt für die Entfaltung der Sinne, für ein positives Körpergefühl. Sexualität entwickelt sich also eingebettet in viele andere Erfahrungen der Kindheit. Für uns Eltern ist das beruhigend: Wir müssen nicht die ganze Checkliste vorbildlicher sexueller Aufklärung abgearbeitet haben, um unserem Kind später eine erfüllte Sexualität zu ermöglichen.

Experten betonen, dass kindliche Sexualität grundsätzlich eine andere ist als die von Erwachsenen. Wenn ein Kind zum Beispiel beim Erkunden des eigenen Körpers entdeckt, dass das Streicheln der Genitalien schöne Gefühle macht, ist dies einfach Teil einer körperlichen Erfahrung – genauso wie es guttut, den Mückenstich mit Spucke zu kühlen. Kleine Kinder haben eine ganz andere Wahrnehmung als Erwachsene oder Jugendliche, die solche Situationen in einen sexuellen Kontext stellen.

Was tun?

„Im Kinderzimmer finden Doktorspiele statt.“

Beim Doktor-Spielen befriedigen Kinder altersspezifische Bedürfnisse – den Körper erforschen, Gesehenes nachahmen – und brauchen dabei keine erwachsenen Zuschauer.
Wenn alles einvernehmlich geschieht, kann man gelassen bleiben und muss nicht überzogen reagieren.Sonst bekommen Kinder den Eindruck, dass sie ein Geheimnis um ihre Gefühle und Bedürfnisse machen müssen. Eingreifen sollte man, wenn ein Kind gegen seinen Willen mitspielt oder das Spiel von Älteren gesteuert wird.

Die Dinge beim Namen nennen

Kleinkinder entwickeln irgendwann ein Bewusstsein für ihr eigenes Geschlecht: Der große Bruder hat einen Penis, aber wo ist eigentlich meiner? Wenn die Tochter suchend zwischen ihre Beine schaut, ist es höchste Zeit zu erklären, dass ihr nichts „fehlt“: Du hast dafür eine Scheide und bei dir ist außerdem noch ganz viel innen in deinem Bauch versteckt!

Doch wie benennt man sie am besten, die primären Geschlechtsorgane? Klar, der Unterleib ist mehr als Popo und Bauch. In manchen Familien gibt es liebevolle Fantasiewörter – Pipimann oder Schniedelchen, Mumu oder Schneckli. Zugleich ist es aber sinnvoll, dass die Kinder auch die offiziellen Begriffe kennen, damit sie mitreden können und vulgären Ausdrücken etwas entgegenzusetzen haben. Übrigens sollte für Sohn und Tochter auch die weibliche Anatomie kein unbenannt-unbekanntes Terrain bleiben: Scheide, Klitoris und Schamlippen haben es allesamt verdient, beim Namen genannt zu werden.

Wir reden mit unseren Kindern über Gott und die Welt, da sollten Themen wie Sinnlichkeit, Genuss und Sex nicht ausgeklammert werden. Denn auch das Vermeiden von Sexualerziehung ist eine Form der Erziehung – aber wollen wir die? Wollen wir die Deutungshoheit über diesen wichtigen Lebensbereich unserer Kinder an Menschen, Medien oder Institutionen abgeben, die vielleicht Dinge behaupten und Worte benutzen, die mit unseren Vorstellungen nicht übereinstimmen?

Was tun?

„Unser Kind hat uns beim Sex erwischt.“

Die Situation ist für die Eltern meist unangenehmer als fürs Kind. Kleineren kann man erklären: „Wir kuscheln und möchten allein sein. Dabei geht es manchmal auch etwas lauter zu, so wie wenn ihr durchs Wohnzimmer tobt.“ Ein größeres Kind kann man im Nachhinein ansprechen und heraushören, ob es verwirrt ist und Gesprächsbedarf besteht.

Grenzen respektieren

Gespräche über Sexualität sind etwas sehr Intimes – klar, dass auch Erwachsene dabei befangen sind und vielleicht Scham empfinden. Und das ist gut so. Schamgefühl, also das Gefühl, dass uns etwas peinlich ist, ist ja kein Zeichen verstaubter spießbürgerlicher Moralvorstellungen, sondern vielmehr eine Markierung der eigenen Grenzen. Und Grenzen – die eigenen und die der anderen – zu erkennen, zu kennen und auch zu wahren, ist der beste Schutz vor Übergriffen und Missbrauch. Wenn unser Kind also neugierig nach Details aus unserem Liebesleben fragt, dürfen wir ohne schlechtes Gewissen antworten: Das möchten wir mit niemandem teilen, das geht nur uns Eltern was an. So lernt das Kind zugleich, dass es richtig ist, auf das eigene Schamgefühl zu hören. Nein sagen ist erlaubt – auch wenn Opa seine liebevollen Küsschen loswerden oder Tante Lisa ihr Patenkind auf den Schoß nehmen will.
Stichwort Missbrauch: Wer sein Kind davor schützen möchte, sorgt am besten in der Familie für eine wertschätzende Atmosphäre, in der man über alles reden kann, was einem komisch vorkommt – ohne auf Vorwürfe und Unglauben zu stoßen. Man sollte Kindern Mut machen, dass man belastende Geheimnisse weitersagen darf. Das bringt mehr, als mit dunklen Szenarien Angst zu schüren – und Sexualität ist im Normalfall ja auch nichts Bedrohliches.

Es gibt, wie bei so vielen Themen, in jeder Familie andere Regeln: Wird beim Gang aufs Klo oder beim Duschen die Tür zugemacht oder abgeschlossen, zieht man sich öffentlich an oder eher in der Ecke, läuft man auch mal nackt durch die Wohnung? Oft werden solche Regeln unausgesprochen festgesetzt: Bei Mama darf ich mit aufs Klo; Papa hat nach dem Duschen immer ein Handtuch um den Bauch.

Wichtig ist, dass wir auch das Schamgefühl des Kindes respektieren. Selbst wenn die Eltern mit Nacktheit kein Problem haben, sollten sie akzeptieren, dass Kind sich nicht im Beisein anderer umziehen oder sein großes Geschäft verrichten will. Oft verändert sich im Lauf der Kindheit das Schamempfinden – die Tochter, die früher so unbefangen ohne Kleidung durchs Quartier gelaufen ist, fühlt sich plötzlich schon im Bikini nackt.

Was tun?

„Mein Sohn spielt immer wieder an seinem Penis / unsere Tochter rutscht so gerne auf dem Sofakissen rum …“

Viele Eltern sind irritiert, wenn sie merken, dass ihr Kind sich selber streichelt. Für das Kind hat das aber nichts mit Erotik zu tun, sondern es verschafft sich damit ganz unbefangen positive Gefühle. Wir können ihm erklären: „Selbstbefriedigung ist etwas Intimes und Privatsache – zu Hause im Zimmer okay, aber nicht in der Öffentlichkeit, wo es andere Leute stören kann.“

So wahrt man die Grenzen und signalisiert zugleich, dass die Erkundung des eigenen Körpers erlaubt ist. Bitte nicht abwertend oder angeekelt reagieren – denn Penis oder Vulva sind ja nichts Negatives, was man tabuisieren müsste.

Miteinander ins Gespräch kommen

Spätestens im Grundschulalter spielen Eltern als Vermittler auch von Faktenwissen eine wichtige Rolle. Was ist Oralsex? Wozu ist ein Kondom da? Solche Fragen aus dem Mund eines Siebenjährigen machen uns verlegen. Doch wir sollten versuchen, auf eine offene, mutige Frage auch ebenso zu antworten. Mit Worten, die zum Wissens- und Interessensstand der Fragerin oder des Fragers passen – so ganz detailliert muss die Antwort meist gar nicht ausfallen. Wir retten uns in so einer Situation gern mal in einen sexualwissenschaftlichen Monolog – das ist nicht nötig und würgt echtes Interesse schnell ab.

Nicht immer stellt ein Kind von sich aus neugierige Fragen, die Gelegenheit für eine offene Unterhaltung böten. Interesse und Informationsbedarf besteht trotzdem. Dann müssen wir aktiv aufs Kind zugehen.

Je jünger ein Kind ist, desto anschaulicher und an der Lebenswelt orientiert sollten die Informationen sein. Oft kann man gut im Hier und Jetzt anknüpfen: Wenn im Badezimmer die Tamponbox steht oder ein gebrauchtes Kondom am Straßenrand liegt. Wenn die Tante ein Baby oder Nachbars Katze Junge bekommt – all das können Anlässe sein, miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch Bücher können dabei helfen, zum Beispiel ein Aufklapp-Bilderbuch über den Körper, wenn ein Geschwisterchen unterwegs ist, oder ein Mädchen-Erklärbuch für Jugendliche, wenn die Tochter zum Teenager wird.
Wie so oft für wichtige Themen sind ein Spaziergang zu zweit oder eine längere Autofahrt gute Gelegenheiten für solche Gespräche. So ein Gespräch kann Anlaufschwierigkeiten haben, denn es ist gar nicht so leicht, die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden. Dabei die eigene Unsicherheit zu zeigen, macht uns glaubwürdig. Eltern sind nicht allwissend und es kann Spaß machen, gemeinsam zu recherchieren oder eine Broschüre zu bestellen. Manchmal ist es auch leichter, ein Thema nicht bierernst anzugehen, sondern mit ein bisschen Humor und Ironie. Dabei sollten wir aber taktvoll bleiben und Sexualität nicht ins Lächerliche ziehen.

Den einen richtigen Zeitpunkt für solche Gespräche gibt es nicht. Klar ist aber, dass spätestens vor der ersten Menstruation oder dem ersten Samenerguss die Tochter, der Sohn Bescheid wissen müssen, was in ihren Körpern vor sich geht. Und wenn von Kinderseite – auch früh – Fragen kommen, sollte man nicht auf später vertrösten, sondern sich um eine altersgerechte Antwort bemühen. Und immer ehrlich bleiben: Bienchen, Blümchen und Storch sind zu Recht in der Mottenkiste verschwunden.

Und noch ein Rat an die Väter in Familien mit Sohn: Überlasst das Feld nicht ganz den Müttern (die, wie Befragungen zeigen, auch heute noch den Großteil der Aufklärungsarbeit leisten)! Jungs sind froh und dankbar, wenn sie einen männlichen Ansprechpartner für die eine oder andere Frage haben.

Die Vielfalt sexueller Identitäten

Bilderbücher, Broschüren und Websites zum Thema Sexualität haben heutzutage glücklicherweise nicht mehr nur die mitteleuropäische Durchschnittsfamilie im Blick. Sie bilden die Vielfalt der Gesellschaft ab und sprechen von den vielen Möglichkeiten der geschlechtlichen Orientierung und Identitäten: Manchmal entsteht ein Baby auch im Labor und hat nur eine Mama. Oder es hat zwei Mamas. Ein Mann kann einen Mann lieben und heiraten. Nicht alle Menschen mit Gebärmutter sind Frauen, manchmal fühlt sich ein Junge wie ein Mädchen oder umgekehrt. Und gelegentlich lässt sich gar nicht so einfach beantworten, ob jemand ein Junge oder ein Mädchen ist. Die Möglichkeiten sind so bunt wie das Leben selbst. An dieser Wahrheit können und sollten wir uns auch orientieren, wenn wir mit unserem Kind über Sexualität sprechen. Dabei senden wir ganz nebenbei ein wichtiges Signal: Alle Menschen sind gut so, wie sie sind. Nichts ist verkehrt daran, ein bisschen anders zu sein als der Mensch neben mir.

Und wie kommt das Baby nun in den Bauch? Ob Sie Ihrem Schatz erklären, dass das es beim Kuscheln in den Bauch geschlüpft ist oder ob Sie Penis und Scheide oder die Petrischale ins Spiel bringen – das hängt ganz vom Alter, Interesse und Wissensstand Ihres Kindes ab. Hören Sie einfach auf Ihr Bauchgefühl, dann finden Sie sicher die richtigen Worte!

Info-Tipp

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (www.bzga.de) hält viel Infomaterial bereit: mehrere Ratgeber für Eltern zur kindlichen Sexualentwicklung, aber auch Medien direkt für Kinder und Jugendliche. Für Jugendliche gibt es eine extra Website: www.loveline.de