Es war der erste graue Wintermorgen des Jahres, als der Mäuserich Theo seinen Kopf aus seiner kleinen Erdhöhle streckte. Der Himmel war wolkenverhangen und grau. Zum Glück war es in seiner Höhle warm und trocken. Er blickte hinüber zum Laubhaufen seines besten Freundes, des Igels. Auch ihm ging es in seinem Winterquartier gut. Die kleine Maus wollte gerade zurück in ihre Höhle, als die Elster auf einem der kahlen Zweige über Theos Kopf landete. Aus ihrem Schnabel baumelte eine funkelnde Halskette. Theo stockte der Atem. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Die Elster rief zu Theo hinab: „Na Theo, wie findest du meinen Schatz?“ „Er ist wunderschön, woher hast du ihn?“. Der Vogel reckte stolz seine Brust. „Ich habe ihn vom Fensterbrett genommen. Es war die schönste Kette im ganzen Haus.“ Theos Bewunderung wich Entsetzen. „Du hast sie geklaut?“ rief er empört. „Das darf man nicht! Gib sie zurück!“. „Pah!“, rief die Elster. „Hast du denn keinen Schatz? Hättest du einen, wüsstest du, dass man seinen Schatz nie weg gibt! Du musst ihn bewachen! Aber was weißt du denn schon?“, kreischte sie aufgebracht und flog mit der Kette davon. Nachdenklich blickte Theo ihr nach. Er war wütend auf die Elster weil sie geklaut hatte und ihn so gemein behandelte. Aber gleichzeitig wuchs in Theo auch der Wunsch, einen eigenen Schatz zu besitzen, den er bewachen konnte und um den er sich kümmern musste. „Warte nur ab! Ich werde auch einen Schatz haben!“ rief er der Elster nach.
Dieser Gedanke begleitete ihn den restlichen Tag. Doch Theo wollte niemanden bestehlen oder schaden, um an einen Schatz zu kommen. „Vielleicht kann mir der weise Uhu einen Rat geben“, dachte er und verlor keine Zeit. Frierend machte Theo sich auf den Weg quer über die Wiese. Im Sommer wuchsen hier die buntesten Blumen und leckersten Beeren. Beim Spielen mit seinen Freunden boten die hohen Grashalme Schutz vor der heißen Sonne, und am kleinen sprudelnden Bach konnte man sich wunderbar erfrischen. Wie sehr vermisste er es doch, mit seinen Freunden Zeit zu verbringen.

Doch im Winter wirkte dieser Ort trostlos. Die Bäume waren kahl, die Wiese braun und der Bach nur noch ein schlammiges Rinnsal. Alle Tiere warteten in ihren Bauten auf den Frühling. Als Theo endlich die hohe Tanne erreichte, in der der alte Uhu wohnte, war er schon ganz durchgefroren und sein Fell stand nach allen Seiten ab. Zitternd rief er: „Lieber Uhu, hier ist Theo! Ich brauche dringend deinen Rat“. Ein riesiger alter Vogel erschien auf einem Ast. Der alte Uhu. „Lange nicht mehr gesehen“, begrüßte er Theo. „Du hast also eine Frage.“ Schon sprudelte die ganze Geschichte aus Theo heraus. Der alte Uhu lachte leise. „Hör mal Theo“, begann er dann, „ein Schatz ist etwas seltenes, was dich sehr glücklich macht.“ „Meine Freunde machen mich sehr glücklich“, überlegte Theo, „aber sie funkeln nicht.“ „Freunde sind etwas ganz besonderes. Die Zeit mit ihnen ist wertvoll, Theo“, erklärte der Uhu. „Mehr kann ich dir nicht verraten! Du musst deinen Schatz schon selber finden.“

Auf dem ganzen Nachhauseweg grübelte die Maus über die Worte des alten Uhus. Zeit mit seinen Freunden zu verbringen, war für ihn das Schönste. Aber jetzt im Winter war alles so still und grau.

Am nächsten Morgen streckte er seine Nase aus der Höhle. Irgendetwas war anders. Ihm stockte der Atem. Vor ihm breitete sich ein weißes, glitzerndes Tuch aus. Selbst den kahlen Bäumen hatte es eine weiße, wunderschöne Mütze aufgesetzt. Theos Herz machte einen gigantischen Hüpfer. Weiße Flocken stoben wie Sternenstaub nach allen Seiten auf, als Theo einen ebensolchen in den Schnee machte. Ein besonders großer Schneehaufen funkelte wie ein kalter Diamant. Aber Theo wusste, dass in ihm ein warmes Herz schlug, denn es war der Laubhaufen seines besten Freundes, des Igels.

„Hallo Theo“, ertönte plötzlich die Stimme der Elster, „hast du mittlerweile deinen Schatz gefunden?“ Fröhlich grinsend antwortete der Mäuserich: „Schau dich doch nur um, wie unsere Wiese glitzert und funkelt! Was meinst du, wie wertvoll dieser Schatz erst wird, wenn wir unsere Freunde zum Spielen in den Schnee holen!“

An diesem Tag hallte das Lachen der Freunde bis Sonnenuntergang über die funkelnde Schneelandschaft. Und alle, auch die Elster, hofften, dass sich solche wundervollen Wintertage noch oft wiederholen würden.

Die Autorin

Ella Schwinnen ist 14 Jahre alt und kommt aus Roßdorf. Ihre Leidenschaft ist das Schreiben von Geschichten. Im vergangenen Jahr hat sie den hessischen Literaturpreis „OHNEKUNKTUNDKOMMA“ mit ihrer Fantasy-Geschichte „Der Ort ohne Drachen“ gewonnen.
Die Schülerin der Justin-Wagner-Schule in Roßdorf hat für fratz diese Kurzgeschichte zum Vor- und Selbstlesen geschrieben und wird in den kommenden Ausgaben weitere Geschichten liefern, auch wenn ihre Freizeit knapp bemessen ist.