Unsere Autorin Vera Gramm stellt eine Bereitschaftspflegefamilie aus unserer Region und ihren besonderen Alltag vor.

Ruhig und sympathisch klingt Frau M. am Telefon, gerne hätte sie mich auch zu sich nach Hause eingeladen, doch die momentane Kontaktbeschränkung lässt uns nur telefonieren.

Viel Zeit nehme ich mir für das Telefoninterview mit Frau M., denn sie und ihr Mann leisten Außergewöhnliches: Sie sind eine Bereitschaftspflegefamilie und nehmen Kinder, die in ihrer Herkunftsfamilie in Not geraten sind, kurzfristig und vorübergehend bei sich auf:

„Was mir guttut ist, dass ich Kindern in Notsituationen einen Schutzraum bieten kann.“ sagt Frau M. Um dies zu gewährleisten, bleibt die Familie in diesem Artikel anonym: Familie M.

Familie M. hat eigene, mittlerweile erwachsene Kinder. Bereits vor vielen Jahren merken sie, dass in ihrem Haus und in ihrem Herzen noch genügend Platz für weitere Kinder ist. Zunächst erfahren sie über Bekannte von der Möglichkeit, Pflegekinder in die eigene Familie aufzunehmen. Das Jugendamt informiert sie, welche Unterschiede es gibt: Die Dauerpflege, bei der Kinder und Jugendliche möglichst bis zum vollen Erwachsensein in einer Familie bleiben und eben die Bereitschaftspflege, früher auch Kurzzeitpflege genannt. Hier werden Kinder akut aus ihren Herkunftsfamilien in Obhut genommen. Sie können dann zur Ruhe kommen, sich erholen, Teil einer Familienstruktur sein, bis juristisch geklärt ist, wie ihr weiterer Lebensweg aussehen kann. Familie M. entscheidet gemeinsam mit ihren leiblichen Kindern, dass sie kein weiteres Geschwisterkind für ihre Kinder suchen, sondern immer wieder Kindern in Not helfen möchten.

Klamotten in Kisten sortiert

Nach einer umfassenden Informations- und Ausbildungsphase der werdenden Pflegeeltern durch das Jugendamt, nehmen sie Kinder im Alter von drei bis 18 Jahren, auch Geschwisterkinder, bei sich auf. Im Normalfall leben bei Familie M. zwei Pflegekinder gleichzeitig mit im Haushalt. „Zwischen dem Anruf des Jugendamtes und der Ankunft des Kindes vergingen im kürzesten Fall 20 Minuten“, erzählt Frau M. Die Familie hat sich im Laufe der Jahre ein Sortiment an Klamotten aufgebaut. „Die sind nach Alter und Geschlecht in Kisten sortiert.“

Die Kinder bleiben in der Bereitschaftspflegefamilie für einige Tage bis hin zu einigen Monaten, drei Monate sollten nicht überschritten werden, was häufig aber nicht möglich ist. Gründe für die Unterbringung können vielfältig sein: eine alleinerziehende Mutter ohne ein soziales Netzwerk muss ins Krankenhaus, in der Herkunftsfamilie kommt es zu Gewalt, Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch, Familien befinden sich in akuten Überforderungssituationen, welche das Kindeswohl nachhaltig gefährden. Die Kinder werden dann von Jugendamt und Polizei in Obhut genommen und zur Bereitschaftspflegefamilie gebracht.

Informationen zur Bereitschaftspflege:

Pflegeform, in der Kinder vorübergehend in Familien untergebracht werden, wenn sie in Not geraten sind, nicht bei ihren Eltern leben können und kurzfristig Schutz und Geborgenheit benötigen. Pflegefamilien bekommen für ihre Arbeit eine finanzielle Anerkennung und Unterhaltszahlungen für die Kinder. Ansprechpartner für weitere Informationen ist das Jugendamt Darmstadt-Dieburg: pflegekinderdienst@ladadi.de.

In der Zeit, die die Kinder in Bereitschaftspflegefamilien verbringen, wird sehr genau beobachtet, unter welchen Bedingungen, mit welchen Hilfs- und Entlastungsmaßnahmen die Kinder zurück zu ihren Eltern ziehen könnten, die Kinder selbst haben ein dem Alter angemessenes Mitspracherecht. Beispiele für Hilfen sind häufige Besuche durch Familienhilfen, Tagesgruppenbesuche für die Kinder oder auch Entziehungskuren für die Elternteile. Was individuell gebraucht wird, entscheidet das Familiengericht. Hierzu können Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Eltern angefertigt werden. Oberste Priorität hat stets das Wohl der Kinder und das Zusammenführen der Herkunftsfamilie.

Letzteres ist in vollem Umfang (die Kinder ziehen zurück zu ihren Eltern oder einem Elternteil) nicht immer möglich. Dann werden andere Szenarien denkbar: Der Umzug des Kindes in eine Dauerpflegefamilie oder in eine (therapeutische) Wohngruppe mit dem ständigen Bemühen, den Kontakt von Eltern und Kind beizubehalten oder zu verbessern. Auch in der Zeit bei Familie M. stehen die meisten Kinder und Jugendliche in geregeltem, begleitetem Kontakt zu ihren Eltern. Durch die Corona-Krise ist dies ausschließlich telefonisch oder per Videochat möglich. Selbst gemalte Bilder werden per Post verschickt.

Derzeit leben zwei kleine Kinder bei Familie M. und besuchen den Kindergarten und die Grundschule in der Nähe. Der Umzug in eine Bereitschaftspflegefamilie ist ein gravierender Eingriff in ihr alltägliches Leben: Bezugspersonen, Wohnort und Umgebung verändern sich. Die Zukunft liegt noch unklar vor ihnen. Das verunsichert Kinder und ist gleichzeitig eine riesengroße Chance: Ihre akute Not wird gelindert, sie werden in eine liebevolle Familie aufgenommen, sie können zur Ruhe kommen.

Kinder, die in Bereitschaftspflegefamilien kommen, haben in ihrem kurzen Leben bereits ein schweres Päckchen zu tragen. Manchmal sind ihnen geregelte Strukturen unbekannt, Nähe und Distanz sind schwierig abzuwägen, Angst und Aggression spielten in ihrem Leben bereits eine große Rolle.

Wichtig ist, dass die Kinder bei Familie M. Teil der Familie sein dürfen: Sie erleben einen strukturierten, von Liebe und Geborgenheit getragenen Alltag durch gemeinsame Mahlzeiten, spüren Verlässlichkeit durch Zubettgeh-Rituale, bekommen ihren Rückzugsort in einem eigenen Zimmer und empfinden Schutz und Unbeschwertheit beim Spielen im großen Garten der Familie. Für Familie M. bedeutet die Bereitschaftspflege immer wieder wechselnde Familienmitglieder auf Zeit, für die ein Alltag in einer Situation geschaffen wird, in der nichts alltäglich ist. Sie organisieren einen Kindergarten- und Schulplatz, nehmen eventuelle therapeutische Verpflichtungen, wie Ergotherapie oder Logopädie, Arzt- und Gerichtsbesuche wahr, ermöglichen Besuchskontakte mit den leiblichen Eltern auf neutralem Boden, sind Ansprechpartner für Sorgen und Nöte, übernehmen Verantwortung.

Unterstützung und Auszeiten

Doch keine Bereitschaftsfamilie steht damit alleine da: Im Jugendamt gibt es Ansprechpartner, eine 24-Stunden-Rufbereitschaft, Fort- und Weiterbildungen werden organisiert, zehn Gruppensupervisionen finden pro Jahr statt, Einzelsupervisionen sind möglich und auch die Bereitschaftspflegefamilien des Landkreises kennen und unterstützen sich untereinander. Auch auf ihre eigenen Bedürfnisse schaut Frau M., nimmt sich kleine Auszeiten zum Lesen oder für einen Waldspaziergang. Der zweiwöchige Sommerurlaub zu zweit ist wertvolle Zeit zum Energietanken.
Jede Bereitschaftspflegefamilie entscheidet selbst, Kinder welchen Alters sie aufnehmen möchten. Relevant ist dabei auch das Alter der leiblichen Kinder. Das Jugendamt empfiehlt, dass die eigenen Kinder stets die ältesten bleiben. Es ist hilfreich, aber kein Muss, wenn die eigene Familienplanung bereits abgeschlossen ist. Ein eigenes Zimmer für das Kind ist eine wohnliche Voraussetzung.

Familie M. vermittelt den Kindern bewusst, dass der Aufenthalt bei ihnen endlich und eine Übergangsphase ist. „Jedes Kind reagiert unterschiedlich. Manche sind neugierig, andere sehr traurig und verängstigt. Viele Kinder sind sehr distanzlos, was ihnen vielleicht in dieser Situation auch zugutekommen kann.“ Individuell nimmt die Familie Abschied: mit einem Besuch in der Eisdiele oder einem Ausflug. Jedes Kind bekommt ein Fotoalbum mit Bildern aus der gemeinsamen Zeit geschenkt und ein Bild des Kindes verbleibt an der großen Fotowand. So trainiert Familie M. das Loslassen seit vielen Jahren. „Wenn ich die Kinder mit einem guten Bauchgefühl ziehen lasse, ist das Loslassen leicht.“

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