Ein Beitrag von Vera Gramm

Heute stellt unsere weitgereiste Autorin Vera Gramm die 19-jährige Samira vor. Sie ist vor sechs Jahren aus Afghanistan geflohen und leidet an Muskelatrophie.

Samira ist eine selbstbewusste, lebenshungrige, wissbegierige junge Frau. Ich lerne sie auf einer Bildungsreise der Kinderhospizakademie kennen. Gemeinsam erkunden wir Leipzig, besichtigen die dortige Universität, hören die Geschichte der friedlichen Revolution, die in der Nikolaikirche ihren Ursprung nahm, erfahren von Inklusion und diskriminierungsarme Sprache in Sachsen. Samira reist als Teilnehmerin mit lebensverkürzender Erkrankung mit, ich als Begleiterin. Samira ist auf Unterstützung angewiesen, nimmt diese hin, leitet mich professionell an, sodass wir wie selbstverständlich ein Team werden.

Die 19-jährige, ursprünglich aus Afghanistan stammende Frau, lebt seit sechs Jahren mit ihrer Familie in Deutschland. Hier geht sie erstmals in die Schule und macht derzeit auf einem Privatinternat ihren Hauptschulabschluss. Ihr gelingt, was nicht selbstverständlich ist: Samira spricht akzent- und fehlerfrei Deutsch und lernt das für ihren ersten Abschluss notwendige Schulwissen in sechs statt in neun Jahren.

Muskelatrophie

Muskelatrophie ist eine seltene, genetisch bedingte, progressiv verlaufende, lebensverkürzende Erkrankung. Die Skelettmuskulatur wird immer schwächer, die erkrankten Personen verlernen motorische Fähigkeiten wie Laufen, Sitzen, Schlucken, Kauen und sind auf immer mehr Hilfsmittel angewiesen. Die Lebenserwartung ist stark verkürzt.

Hier in Deutschland habe ich mich gefunden

Sie sagt selbst: „Hier in Deutschland habe ich mich gefunden, hier kam meine Persönlichkeit, eine zweite Samira aus mir heraus. Ich bin sehr stolz auf das, was ich bisher gemacht habe.“ Samira ist ehrgeizig, der Hauptschulabschluss ist für sie nur ein Schritt auf dem Bildungsweg. Danach möchte sie weiterlernen bis zum Abitur, um sich danach für Frauenrechte einzusetzen, im Umfeld Migration zu arbeiten oder Jura zu studieren. Samira ist sich bewusst, dass ihre Diagnose Muskelatrophie ihr weniger Zeit für die Umsetzung ihrer Pläne lässt, dennoch „verliere ich nie die Hoffnung, sehe immer nach vorne, habe Ziele, lebe mein Leben Tag für Tag.“

Samira ist in Kabul geboren. Gerade ihre Mutter hatte stets die Hoffnung, dass ihre Tochter noch laufen lernt, sah sie Samiras Erkrankung als Strafe für eigene, vergangene Sünden an. Samira selbst träumte damals von einer Karriere bei der Polizei. In Afghanistan wird Samira zu Hause privat in ihrer Muttersprache Dari unterrichtet, lernt Englisch und erhält Koranunterricht. Ihr Vater war (Teppich-) Händler. Vieles aus dieser Zeit hat Samira vergessen. Ihre Eltern wollten stets ein besseres Leben mit mehr Bildung und ohne Krieg für ihre vier Kinder, das Leben des Vaters war in Afghanistan unmittelbar bedroht, verwundet fliehen sie zunächst ins Nachbarland, das große Ziel war jedoch stets Europa. Samiras Familie gibt im Iran viel Geld für teure Privatärzte aus, bevor es auf dem Landweg über die Türkei nach Griechenland geht. Ihre Mutter verkauft Gold aus ihrer Mitgift, versucht sich trotz ihrer geringen Schulbildung als Geschäftsfrau, doch auch die abenteuerlichsten Behandlungsideen bleiben ohne Erfolg. Gerade Verwandte und Bekannte sehen in Samira nur das kranke, kleine Mädchen, nehmen sie nicht als Persönlichkeit wahr. Samiras jüngste Schwester zeigt die gleichen körperlichen Symptome. Dass beide Mädchen eine Form von Muskelatrophie (s. Infobox) haben, wird in Deutschland klar, doch auch hier ist die genaue Form noch unbekannt.

Flucht über Griechenland

In Griechenland leben sie zunächst in der Illegalität, bis ihre Mutter und die jüngste Schwester mit damals fünf Jahren nach Deutschland weiterreisen können. Dank des Familiennachzugs folgen Samira und ihre beiden ebenfalls jüngeren Geschwister mit dem Vater. Sie ziehen nach Pforzheim, die Familie erhält offiziell Asyl.

Zunächst geht Samira auf eine Förderschule für geistige Entwicklung, die ihre jüngste Schwester noch heute besucht. Dann muss Samira für drei Monate ins Krankenhaus, ihr Allgemeinzustand ist sehr schlecht und instabil. Im Krankenhaus lernt Samira Deutsch, denn für sie war es wichtig, sich direkt mitteilen zu können. „Ich musste mich 24/7 mitteilen, das hat mich weitergebracht. Ich habe bemerkt, dass ich als Person erkannt werde, dass ich mich äußern kann.“ Das motiviert sie ungemein und als sie in die Schule zurückkehrt, geht es ihr nicht nur körperlich besser: Alle sind überrascht, wie gut Samira deutsch spricht.
Samira erkennt, dass Sprache ihr Selbstständigkeit gibt, die Samira in allen Lebensbereichen wichtig ist. Dass sie immer auf Unterstützung angewiesen sein wird, schmälert ihren Willen zur Selbstbestimmung und Teilhabe nicht. In jeder Tätigkeit sucht sie nach Möglichkeiten, wirksam zu sein und ihren Beitrag zu leisten: Beim Kochen schneidet sie Gemüse, bestimmt die Gewürze und überlässt es eben anderen, sich beim Abschütten der Nudeln zu verbrennen.

Anderen Frauen möchte sie zurufen: „Macht euch klar, was gut an euch ist!“

Samira ist sehr selbstreflektiert und sieht ihre Stärke vor allem darin, Erfahrung anzunehmen, zu verarbeiten und weiterzumachen. Sie arbeitet dafür bewusst an ihrer positiven Wahrnehmung. Diskriminiert fühlt sie sich in keinem Bereich, Schwächen zeigt sie nicht gerne. „Fehler kann ich zugeben und mich entschuldigen, denn ich hasse es, ein schlechtes Gewissen zu haben.“

Sie sagt, was sie will und denkt, wirkt dabei vielleicht manchmal unnahbar, vielleicht schüchtert ihr Selbstbewusstsein andere ein, doch „es ist mein Leben, nicht das der anderen, und ein bisschen Diva schadet niemandem“, lacht sie.

Anderen Frauen möchte sie zurufen: „Macht euch klar, was gut an euch ist! Schätzt euch wert! Überlegt, welches Fundament ihr mitbringt, auf das ihr bauen könnt, schreibt eure Stärken auf, glaubt an euch, liebt euch selbst!“

Ihren Eltern fällt es schwer, Samira auf die Stephen-Hawkings-Schule in Neckargemünd bei Heidelberg ziehen zu lassen. Hier ist ganz klar: Samira wird gefördert und gefordert. „Ich liebe meine Lehrerin! Sie ist ein wahrer Herzensmensch für mich.“ Ihr Krankheitsbild bessert sich seit ihrer Ankunft in Deutschland, sie fährt erstmals einen an ihre Bedürfnisse angepassten E-Rollstuhl. Auf der Flucht wurde sie getragen, in Griechenland bekam sie einen Buggy, rückblickend entwürdigend. Ihre Erfahrung bearbeitete sie in einer Traumatherapie. In Deutschland ist sie nicht mehr hilflos und Mitleid ist das letzte, was die hübsche junge Frau möchte. Sie ist stolz auf sich und möchte der Welt, gerade den Menschen, die nicht an sie glaubten, zeigen, was sie kann und erreicht hat.

Zwischen ihrem Leben in der Schule und zu Hause liegen Welten

Samira stammt aus einer muslimisch geprägten Familie und setzt sich mit allen Religionen kritisch auseinander. „Ich habe Religion viel zu oft als Trennung zwischen den Menschen erlebt.“ Nur im ersten Jahr hat Samira ein wenig Heimweh nach Afghanistan, vermisst ihre Großeltern. Ihren Eltern fallen das Deutschsprechen und die Integration schwerer als ihren Kindern, der Kulturschock ist größer, Lebenserfahrungen nicht verarbeitet. Ihr Vater arbeitet im Garten- und Landschaftsbau, ihre Mutter kümmert sich um Haushalt und Kinder.

Trotz innerfamiliärer Probleme lassen sie Samira ziehen, Samira kämpft sich frei, ist emanzipiert und gerade für ihre Schwestern ein Vorbild. „Meine Mama ist stolz auf mich, das spüre ich, sie kann es nur nicht sagen und richtig zeigen.“ Ihre Eltern geben für Samira an ihrem achtzehnten Geburtstag ein rauschendes Fest und laden Bekannte und Verwandte ein, mit dreistöckiger Torte und rosa Kleid. Samira erinnert sich gerne an den Tag. „Gerade mit etwas Abstand sehe ich, was meine Mutter alles gemacht hat, ich bin auch stolz auf sie.“

Samira mag sich und ihren Körper, ihre Haare, sie mag sich als Frau, ihre Unabhängigkeit und möchte sich nicht verstecken. Samira reist sehr gerne, geht gerne shoppen und an Wochenenden gerne aus. Sie ist spontan, gesellig, von Freunden umgeben, beliebt und geachtet. Sie liebt gutes Essen und träumt von einem Tandem-Fallschirmsprung. Unter der Woche ist sie sehr pflichtbewusst, lernt und möchte unbedingt einen sehr guten Abschluss erreichen. Ihr Lieblingsfach ist Deutsch, da es so vielseitig sei. Samira ist Klassen- und Bereichssprecherin, gerade war sie auf einer Tagung zu Teilhabeverbesserungen mit der Stadt Heidelberg. Sie engagiert sich in der SMV (Schülermitverantwortung). Ihre Offenheit und ihr Engagement sollen andere Menschen dazu bringen, sich mit Inklusion, Frauenrechten und Zuwanderung zu beschäftigen, „So kann ich auch andere weiterbringen.“

Schlechte Tage gibt es, verletzlich sein gehört auch zum Leben. Dann heißt es, weitermachen, denn Schmerz habe sie auch immer weiter gebracht in ihrem Leben. Kraft dazu zieht sie unter anderem aus der Musik ihrer Lieblingssängerin und Frauenrechtlerin aus Afghanistan, die sie bewundert: Aryana Sayeed. Ihr von Samira mit Kohle auf Leinwand gezeichnetes Porträt hängt in Samiras geräumigem Zimmer mit großer Fensterfront in den Odenwald, direkt neben dem Schminktisch. Sie hat die Sängerin selbst getroffen, auf ihrer Tour durch Deutschland letztes Jahr. Aryana Sayeed lebt in London und singt auf Dari und Paschtu. „Diese kraftvolle Frau inspiriert mich.“

Hier bin ich nicht hilflos, ich bin geistig da

„Hier in Deutschland habe ich Menschen getroffen, für die ich keine Last, sondern eine Bereicherung bin. Menschen haben an mich geglaubt. Hier bin ich wichtig. Ich bin nicht hilflos, ich bin geistig da.“ Samira erhält die notwendige Unterstützung, doch die Kraft, die Lebensfreude und der Wille zu lernen, Dinge anzupacken und zu hinterfragen, kommt aus ihr allein. „Wenn Menschen über mich lesen, mich sehen und kennenlernen, möchte ich nicht, dass sie auf Mitleid umschalten, sondern denken: Was für ein starkes Mädchen!“

Was für eine kluge, starke, emanzipierte, gebildete, gewitzte junge Frau denke ich und freue mich bereits auf unsere nächste gemeinsame Reise: nach Holland zum Segeln. Samira hat absolut recht – sie ist eine Hoffnungsquelle für alle.

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