Etwa jedes zehnte in Deutschland geborene Baby ist ein „Frühchen“. In Hessen kommen viele davon im Klinikum Darmstadt zur Welt. Die neonatologische Abteilung dort ist auf die Versorgung von sehr kleinen und kranken Neugeborenen spezialisiert. fratz hat die Station besucht und mit ihrem ärztlichen Leiter Dr. Georg Frey gesprochen.

Die Gründe für eine Frühgeburt sind vielfältig. Manchmal stecken Rauchen, Stress oder Fehlernährung, eine Krankheit oder Infektion der Mutter dahinter, manchmal hat das Kind eine Fehlbildung oder leidet im Mutterleib unter Mangelversorgung. Oft setzen dann verfrühte Wehen ein, oder die Fruchtblase platzt vorzeitig. Es kommt auch vor, dass das Baby vorzeitig „geholt“ werden muss, weil Mutter oder Kind sonst in Lebensgefahr wären. In 40 Prozent der Fälle lässt sich aber gar keine exakte Ursache für verfrühte Wehen oder einen vorzeitigen Blasensprung finden.

Der sicherste Ort bei einer drohenden Frühgeburt ist ein LEVEL-1-Perinatalzentrum, ein Krankenhaus, in dem Entbindungsstation, Operationssaal und Neugeborenen-Intensivstation zusammengefasst sind und dessen Fachpersonal in der optimalen Versorgung von Frühchen und kranken Neugeborenen erfahren ist. Dort wird man versuchen, mit Medikamenten die Wehentätigkeit zu hemmen, Infektionen gegebenenfalls mit Antibiotika zu behandeln und durch Kortison die Lungenreifung des ungeborenen Babys zu beschleunigen. Denn das Ziel heißt: dem Baby ein komplikationsfreies Überleben zu ermöglichen.

Auch das Klinikum Darmstadt verfügt mit dem Mutter-Kind-Zentrum über ein Perinatalzentrum LEVEL 1 und betreut Risikoschwangerschaften aus ganz Südhessen. Im Gespräch erzählt der ärztliche Leiter der Neonatologie (Neugeborenen-Intensivstation), Dr. Georg Frey, viel Interessantes rund um das Thema Frühgeburt.

Manchmal hat man den Eindruck, dass es heutzutage mehr Frühchen gibt als früher. Stimmt das?

Rund zehn Prozent der in Hessen geborenen Kinder müssen nach der Geburt in einer Kinderklinik behandelt werden. Wiederum zehn Prozent dieser Kinder waren extreme Frühgeborene. Hier in Darmstadt kommen pro Jahr circa 70 Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm zur Welt. Insgesamt ist die absolute Zahl der Frühgeborenen nicht gestiegen; allerdings gehen die Geburtenzahlen überhaupt zurück, so dass die Frühchen-Quote in der Tat leicht angestiegen ist. Seit rund zehn Jahren stellen wir in Deutschland auch eine Beziehung zwischen der sozioökonomischen Zugehörigkeit der Familie und dem Frühgeburtsrisiko fest. Es gilt: Je ärmer eine Frau ist, desto eher erleidet sie eine Frühgeburt.

Wann spricht man überhaupt von „Frühchen“?

Ein Baby, das vor Vollendung der 36. Schwangerschaftswoche geboren wird, gilt als Frühgeburt. Je nach Geburtstermin unterscheiden sich die Startchancen: Vor der 26. Schwangerschaftswoche geborene Kinder gelten als hoch gefährdet, vor der 24. Schwangerschaftswoche geborene als extrem gefährdet. Ab einem Geburtsgewicht von 1500 Gramm sind die Überlebenschancen nicht schlechter als bei einem termingeborenen Kind. Entscheidend für seine weitere Entwicklung ist aber letztlich seine Reife, nicht primär das Geburtsgewicht.

Ab welchem Geburtsalter hat ein Baby eine Überlebenschance?

Für Deutschland lässt sich sagen: Ab der 22. vollendeten Schwangerschaftswoche – vorher kann die Lunge noch nicht arbeiten – ist ein Überleben möglich, allerdings ist das Kind zu einem hohen Prozentsatz von Behinderung betroffen. Ab der 24. Schwangerschaftswoche steigen seine Chancen kontinuierlich. Babys, die zwischen der 22. und 24. Schwangerschaftswoche geboren werden, können, müssen aber nicht ärztlich behandelt werden. Die Entscheidung wird im Gespräch mit den Eltern getroffen, in dem auch über mögliche Behinderungen aufgeklärt wird. Ab der 24. Woche sind die Ärzte gesetzlich verpflichtet, das Neugeborene medizinisch zu versorgen.

Bei jedem Menschen ist die Geburt der gefährlichste Moment im Leben. Doch in Deutschland und gerade hier in Südhessen haben wir eine Neugeborenenversorgung auf höchstem Niveau und sind, wie Studien belegen, in Bezug auf Mortalität (Sterblichkeit) und Morbidität (Risiko einer Behinderung) europaweit führend. Von den rund 700 schwerkranken Neugeborenen, die wir auf unserer Station pro Jahr behandeln (nicht nur Frühchen, auch Kinder mit Fehlbildungen oder Infektionen), tragen weniger als ein Prozent eine schwere Behinderung davon. Ohne Therapie würden die Meisten von ihnen sterben. Wenn man sich vor Augen hält, dass in der Intensivmedizin allgemein 95 Prozent der Kosten für Menschen ausgegeben werden, die nur noch weniger als sechs Monate zu leben haben, aber unsere Patienten noch ihr ganzes Dasein vor sich haben, ist das Geld in der Neonatologie doch sehr effektiv und sinnvoll eingesetzt!

Gibt es auch Niederlagen?

Wenn ein Baby stirbt, ist das gerade für die jüngeren Ärzte und Schwestern problematisch. Doch damit müssen wir umgehen lernen und können den Tod eines Kindes in der 23. Schwangerschaftswoche vielleicht mit dem Ableben eines hochbetagten Menschen vergleichen: Die Natur ist eben nicht verbiegbar. Aber zum Glück überlebt ja der ganz überwiegende Teil der Frühgeborenen ohne Beeinträchtigung.

Kommt so eine Frühgeburt aus heiterem Himmel, oder zeichnen sich die Probleme vorher ab?

Beides kommt vor. Die meisten Frühgeburten kündigen sich an, allerdings unterschiedlich lange vorher. Oft entstehen sie aus einer Problemschwangerschaft. Die eigentliche Leistung der Fachleute hier im Perinatalzentrum ist es, eine solche Schwangerschaft bis zum Termin zu halten und die Frühgeburt zu vermeiden. Leider ist diese Leistung finanziell ein „Minusgeschäft“. Mehrlingsschwangerschaften sind übrigens nicht zwingend ein Fall für die Neonatologie. Viele Zwillings- und auch Drillingskinder sind ausgetragen – das heißt in ihrem Fall, sie kommen nach der 36. Woche zur Welt.

Mit welchen Problemen haben Frühchen zu kämpfen?

Die erste Hürde ist die Atemanpassung. Schon vor der drohenden Frühgeburt erhält die Mutter Kortison, um so die kindliche Lungenreifung zu beschleunigen. Nach der Geburt kann die Lunge durch die Gabe von Surfactant nachreifen, das für die Oberflächenspannung der Lungenbläschen nötig ist. Verschiedene Beatmungsformen unterstützen Babys, die noch Anpassungsstörungen haben. Insgesamt sind Atemprobleme recht gut zu behandeln, und wir versuchen so wenig einzugreifen wie möglich. Weitere Komplikationen können Darmentzündungen oder Einblutungen in das Gehirn sein. Von der gefürchteten Erblindung sind zum Glück nur ganz wenige Kinder betroffen, weil eine drohende Netzhautablösung von unserer Augenklinik kontrolliert und behandelt wird. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der neurologischen Entwicklung. Denn gestörte Motorik oder mentale Retardierung, also eine Behinderung im Bereich der Bewegungs- oder Intelligenzentwicklung, sind die größten Risiken für Frühgeborene und wirken massiv in ihr zukünftiges Leben hinein. Durch „minimal handling“, Vermeidung von Beatmung, entwicklungsfördernde Pflege, Hygienemaßnahmen sowie eine in jeder Hinsicht auf die Neu-und Frühgeborenen angepasste Umgebung erreicht man die besten Erfolge in der Versorgung dieser schwerstkranken Kinder. Hier haben wir schon sehr großen Erfolge erzielt, wobei noch ein weiter Weg vor uns liegt.

Was hat sich in der medizinischen Versorgung in den letzten Jahren verbessert?

Der Einsatz von Surfactant zur Lungennachreifung, das weltweit zum ersten Mal 1988 und in Darmstadt 1989 eingesetzt wurde, hat vielen Kindern das Leben gerettet. Heute ist für die optimale Versorgung von Neugeborenen ein stimmiges Gesamtkonzept entscheidend, ein gemeinsames Wirken von Geburtshelfern, Neugeborenen-Intensivmedizin und –Intensivpflege und extrem sorgfältiges Arbeiten. Wie gut die Chancen eines Babys sind, hängt von der Kompetenz der Pflegenden und Ärzte ab. Je mehr Erfahrung sie haben, desto besser ist die Versorgung. In Darmstadt ist das zusätzliche Geheimnis unseres Erfolges die minimalinvasive Therapie.

Welche Rolle spielen die Eltern?

Wir binden die Eltern in die Versorgung ihres Kindes ein und unterstützen zum Beispiel die Känguru-Methode, wo die Kinder in engem Körperkontakt auf dem Bauch von Vater oder Mutter liegen. Diese Mithilfe geschieht im Rahmen eines klaren Regelwerks, denn die Kinder brauchen vor allem Ruhe – sie schlafen ja die meisten Stunden am Tag. Wenn Eltern Fragen und Sorgen auf dem Herzen haben, sind die Schwestern und Ärzte der Neonatologie jederzeit Ansprechpartner. Weitere psychologische und soziale Hilfsangebote kommen von den Sozialarbeiterinnen und psychologisch geschulten Mitarbeiterinnen unserer Kinderklinik, mit denen wir zusammenarbeiten.

Erfahren Sie, was aus „Ihren“ Babys geworden ist?

Wir Neugeborenen-Ärzte können uns nicht aus der Verantwortung stehlen, denn in unserer Frühchenambulanz begegnen uns unsere kleinen Patienten immer wieder zur Nachbeobachtung. Kürzlich hat mich ein junger Mann besucht, dem ich vor 23 Jahren ins Leben geholfen habe. Er ist ein sehr kleines Frühchen gewesen – jetzt studiert er hier (Dr. Frey zeigt ein Foto auf seinem Handy)! Und vor einiger Zeit hat mich eine Frau angesprochen, deren zu früh geborene Tochter hier versorgt worden war. Jetzt hat diese Tochter selbst ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Solche erfreulichen Momente zeigen, wie gut es gelingt, Frühchen auch nach schwierigem Start ein Leben mitten in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Meine Arbeit ist oft sehr bürokratisch und kompliziert, aber ich habe meine Berufswahl noch keinen Tag bereut!

Dr. med. Georg Frey