Wie alles entstand: Die Geschichte der Kinderrechte
Schon 1959 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Erklärung der Rechte des Kindes verabschiedet und damit erstmals Kinder als eigenständige Rechtsträger bezeichnet. 30 Jahre später, am 20. November 1989, wurde daraus die internationale Kinderrechtskonvention, ein völkerrechtlich bindender Vertrag, den bis heute alle UN-Mitgliedsstaaten außer den USA ratifiziert haben. Auch in der EU sind die Kinderrechte verankert: Artikel 24 der EU-Grundrechtecharta betrachtet Kinder als eigenständige Grundrechtsträger, die Anspruch auf Schutz und Fürsorge haben und deren Meinungen gehört und einbezogen werden sollen. Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und SPD die Absicht erklärt, die Kinderrechte explizit auch ins Grundgesetz aufzunehmen. Kritiker halten das für Symbolpolitik, da die Kinderrechte in Deutschland bereits rechtsverbindlich sind und für Kinder wie für alle Menschen natürlich die Grundrechte gelten. Außerdem würden so die Elternrechte geschwächt, die Gefahr staatlicher Einflussnahme drohe. Viele Lobbyverbände und Parteien versprechen sich dagegen einen besseren Schutz der Kinder und eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohles bei öffentlichen Entscheidungen.
Kinderrechte in Deutschland – wo es hakt
Auch wenn fast überall auf der Welt die UN-Kinderrechtskonvention gilt: In vielen Ländern steht es schlecht um die Reche der Kinder. Kinderarbeit, sexuelle Ausbeutung, die Rekrutierung von Jugendlichen als Soldaten und eine unzureichende Ernährungslage sorgen dafür, dass Kindheit keineswegs unbeschwert ist.
Dagegen geht es Kindern in Deutschland heute sehr gut, viele ihrer Rechte sind selbstverständlich und eine Vielzahl von Institutionen und Strukturen hat ihr Wohl im Blick. Doch auch hierzulande finden nicht alle Kinder die Rahmenbedingungen, um ihre Rechte angemessen wahrzunehmen. Organisationen wie UNICEF und das Deutsche Kinderhilfswerk weisen darauf hin, dass im reichen Deutschland rund drei Millionen Kinder in Armut leben. Ihr Schulerfolg wird oft durch die Herkunft mitbeeinflusst. Entscheidungen, die Kinder direkt betreffen, werden nicht selten über ihre Köpfe hinweg gefällt. Organisationen fordern daher u.a., dass kindgerechte Anlauf- und Beschwerdestellen eingerichtet werden, dass mehr in die Kinderfreundlichkeit von Städten und Gemeinden investiert wird und Eltern mit wenigen Ressourcen durch präventive Maßnahmen in ihren Erziehungskompetenzen gestärkt werden.
Und auch das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist leider nicht immer gewährleistet, wie Angela Bucher berichtet. Sie ist Leiterin der Beratungsstelle des Kinderschutzbunds Darmstadt. Er will Kinder durch eine Vielzahl von Angeboten vor Gewalt und Ausbeutung schützen. „Wir setzen darauf, Kinder zu stärken, dass sie nein sagen dürfen, dass ihre eigenen Gefühle wichtig sind und sie sich bei Bedarf Hilfe holen sollen“, erklärt Angela Bucher. Und was antwortet sie, wenn es heißt, ein kleiner Klaps habe noch keinem geschadet? „Dann verweise ich darauf, dass es schlichtweg verboten ist! Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten und haben ein Recht darauf, dass sie gewaltfrei aufwachsen können, dass ihre Bedürfnisse geachtet und sie in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Gewalt ist eine Grenzüberschreitung und stellt einen Angriff auf die Würde eines Kindes dar, sie schadet ihm in seiner Entwicklung. Es ist ganz wichtig, dass Eltern andere Wege gehen, um ihre Erziehungsvorstellungen umzusetzen.“ Das betrifft nicht nur körperliche Gewalt. „Schaden nehmen Kinder auch durch Demütigung und Herabsetzung, durch Einsperren und durch Strafen, die in keinem Verhältnis zum Vergehen stehen. Auch wenn ein Kind ständigem Elternstreit ausgesetzt ist oder Eltern ein Baby schreien lassen, weil sie ihre Ruhe wollen, ist das seelische Gewalt.“
Kinderrechte haben Vorrang
Insgesamt sind der Schutz von Kindern und die Berücksichtigung ihrer Belange gesellschaftlicher Konsens. Doch in der Praxis ist das oft nicht ganz so einfach. Jede und jeder von uns kennt Fälle, wo die Bedürfnisse von Kindern mit anderen Interessen kollidieren. Sei es der neue Spielplatz, der das Ruhebedürfnis der Anwohner stört, sei es das Verbot, den Kinderwagen im Hausflur zu parken. Die Kinderrechtskonvention gibt eine Leitlinie zur Lösung solcher Konflikte: Sie verpflichtet dazu, in öffentlichen Entscheidungen das Kindeswohl und die Interessen von Kindern als einen vorrangigen Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Das heißt nicht, dass die Belange von Kindern immer Vorrang haben. Wenn sie aber als nachrangig bewertet werden, muss man dies sachlich begründen.
Umsetzung im Alltag
Auch in der Familie entstehen im Alltag solche Konfliktpunkte. Auf der einen Seite sind da die Eltern, die ihre die Aufsichts- und Fürsorgepflicht ernst nehmen wollen, auf der anderen Seite ein wütendes Kind, das mehr Freiheit einfordert. Was sagt man einem Teenager, der bis spätnachts zum Tanzen wegbleiben will? In diesem Fall hilft uns das Jugendschutzgesetz beim Argumentieren. Aber dürfen wir unserem Elfjährigen den Umgang mit Freunden verbieten, wenn wir ein ungutes Gefühl haben? Albert Fink, Diplom-Psychologe und Leiter der Erziehungsberatungsstelle in Groß-Umstadt, weiß, wie schnell solche Situationen eskalieren können und wie hilflos sich Eltern dann fühlen. Er rät dazu, souverän zum eigenen Standpunkt zu stehen. „Sie könnten zum Beispiel verlangen, die Freunde kennenzulernen, bevor Ihr Sohn dort übernachtet, und sich die Telefonnummer der Eltern geben lassen und mit denen sprechen.“ Und wenn Absprachen oder Uhrzeiten nicht eingehalten werden? „Wenn Sie wissen, wo Ihr Kind sich aufhält: Fahren Sie hin, holen Sie es ab. Das ist sehr peinlich, signalisiert aber: Egal was du tust, wir lassen es nicht laufen, wir haben Verantwortung für dich.“ Allgemein plädiert Albert Fink für mehr Klarheit in der Erziehung. „Es muss nicht alles ausdiskutiert werden. Sie sind in der Elternrolle und haben als solche quasi einen ‚Hut‘ oder ein ‚Krönchen‘ auf. Schauen Sie, dass das aufbleibt. Behalten Sie Ihre positive Autorität.“
Anka Meyenburg, Erzieherin im Kinderhaus der Pädagogischen Akademie Elisabethenstift in Darmstadt, arbeitet mit Kindern ab einem Jahr. Auch sie betont, dass die Führung immer bei den Erwachsenen bleiben sollte. Eltern können aber kritische, unbeliebte Situationen (wie Schuhe-Anziehen am Morgen, Spiel-Ende vor dem Abendessen) so gestalten, dass das Kind beteiligt wird. „Geben Sie ihm den Freiraum zu entscheiden, ob es z. B. zuerst Schuhe anziehen oder erst frühstücken will. Und planen Sie einen Zeitpuffer ein, dann kann das Kind die Geschwindigkeit bestimmen. Es hat ein Recht darauf, die Struktur seines Alltags mitzugestalten und nicht fremdbestimmt hin- und hergeschoben zu werden.“ Allerdings müssen kleine „Prinzen und Prinzessinnen“ auch lernen, dass die eigenen Rechte da aufhören, wo die Rechte des anderen anfangen, dass auch andere Menschen Bedürfnisse haben, sagt Anka Meyenburg. „Man kann schon den Jüngsten auf kindgerechter Ebene vermitteln, dass sie den Blick für den anderen öffnen.“
Bei den Älteren ist Medienerziehung ein ewiges Thema, so Albert Fink. Und auch wenn das Bedürfnis nach Privatsphäre und das Recht auf eigene Erfahrungen des Kindes berechtigt sind: „Schauen Sie Ihrem Kind über die Schulter, haben Sie im Blick, welche Profile ins Netz gestellt werden, lassen Sie sich erklären, was es im Internet macht.“ Klar, dass Eltern da nicht alles zu sehen bekommen. Fink empfiehlt aber, Vertrauen in die eigene Erziehung zu haben und den Nachwuchs nicht auf Schritt und Tritt zu kontrollieren. „Das geht sonst auf Kosten der Selbstständigkeit und provoziert nur Widerstand.“
Von harten Konsequenzen wie Hausarrest hält er wenig. „Das ist kontraproduktiv, soziale Kontakte sollten Eltern eher unterstützen. Nachhaltiger wirkt eine Wiedergutmachung: sich beim Geschädigten entschuldigen oder zum Beispiel etwas erledigen, was allen nutzt (Gartenarbeit, Oma helfen).“
Einen Konsens finden
Ob Handynutzung, Ausgehen, das Anzieh-Thema oder ein gelegentlicher Blick ins verschlossene Kinderzimmer: In vielen Momenten ist Erziehung eine Gratwanderung, die im Widerstreit zwischen kindlicher Partizipation und Freiheitsbedürfnis einerseits sowie elterlichem Erziehungsrecht und Wertevermittlung andererseits eine tragfähige Lösung finden muss.
Oft lässt sich ein Konsens finden, wenn wir Eltern und Kinder als ungleiche, aber gleichwertige Partner sehen. Die Erwachsenen behalten die Leitung, aber die Kinder dürfen mitentscheiden. Vielleicht können wir uns von Anka Meyenburgs Schilderung des Kita-Alltag etwas abschauen: „Wenn es bei uns um die Tagesgestaltung geht, tragen wir erst alle Wünsche zusammen. Bei der Abstimmung, was gespielt wird, achten wir darauf, dass nicht immer nur die Mehrheitsentscheidung gewinnt, sondern dass alle Spiele mal zum Zug kommen. So werden anfangs unpopuläre Ideen oft neu ganz neu entdeckt.“ Übertragen auf die Planung des nächsten Familienwochenendes, verspricht diese Methode spannende neue Erfahrungen.
Was hier im Kleinen als Übung in Demokratie und Partizipation geschieht, können die etwas Älteren in Kinder-und Jugendparlamenten oder anderen Formen der Teilhabe praktizieren (in Weiterstadt etwa gibt es einen „Juze-Rat“ sowie einen Beteiligungspreis). So lernen die jungen Menschen, sich für ihre Belange einzusetzen, zu argumentieren, andere Meinungen zu respektieren und Kompromisse zu finden.
Gibt es auch Kinderpflichten?
Wo Rechte sind, da sind auch Pflichten – der Satz gilt auch für Kinder. Dass Kinderpflichten sogar gesetzlich fixiert sind, ist vielen gar nicht klar. Doch § 1619 des Bürgerlichen Gesetzbuches äußert sich dazu: Ein Kind, das im elterlichen Haushalt lebt, ist „verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.“
Den Tisch decken und abräumen, die Mülltonne rausstellen, Opa im Pflegeheim besuchen: Es gibt viele Aufgaben, bei denen sich Kinder in die Familienpflichten einbringen können ‒ natürlich abhängig vom Alter und ohne dass die Zeit zum Lernen und Spielen darunter leidet. Zur Orientierung: Die Rechtsprechung hält 3,5 bis 7 Wochenstunden Mitarbeit bei 12-jährigen Kindern für zumutbar.
Albert Fink erlebt in der Erziehungsberatung immer wieder, dass Eltern ihren Kindern zu viel abnehmen. „Das ist gut gemeint, geht aber auf Kosten ihrer Selbstständigkeit. Wenn Kinder altersentsprechend in Verantwortung eingebunden werden, nutzt das ihrer Entwicklung.“ Doch was tun, wenn man zu Hause einen kleinen Faulpelz hat, der sich partout nicht an die Arbeit findet? Sein Tipp: „Machen Sie ihm klar, was Sie als Eltern ganz selbstverständlich alles für ihn tun. Wenn er keine Aufgaben übernimmt, könnte dieser Service auch eingeschränkt werden, dann wird ihm eben der Lieblingsjoghurt nicht mehr mitgebracht.“ Auch kleine Anreize können zur Mithilfe motivieren, es sollte allerdings daraus kein Entlohnungssystem entstehen, bei dem für jede Arbeit bezahlt wird. „Man könnte aber ein Smiley-System einführen“, so Fink. „Wer zehn Smileys gesammelt hat, darf sich etwas Schönes wünschen.“
Für Kindergartenkinder schlägt Erzieherin Meyenburg vor, Pflichten wie Aufräumen oder Anziehen als bewusste Übergänge zu gestalten, „mit einem kurzen Rückblick, was war, und einem Ausblick, der Lust macht auf das, was kommt. So wird das Aufräumen zum selbstverständlichen Teil des Tages.“ Vielen Aufgaben lassen sich auch spielerisch erledigen. „Bei uns werden zum Beispiel die Kinder beim Aufräum-Spiel zu Staubsaubern oder Robotern, die jeweils anderes Spielzeug einsammeln. Statt fremddiktiert zu sein, können sie so gemeinsam etwas entwickeln.“
Schließlich profitieren alle davon, wenn die Arbeit im Team erledigt wird: Kinder können stolz darauf sein, gebraucht zu werden – und die ganze Familie hat mehr Zeit, zusammen etwas Schönes zu unternehmen.