„Mmh, Käsekuchen!!!“, rufen Frieda und Thea begeistert und schieben sich das Quarkgebäck in den Mund. Carla konzentriert sich derweil auf ein Gläschen Babynahrung, aus dem Mama Sylvia sie füttert. Sie plappert auch nicht mit ihren Schwestern wild durcheinander, denn Carla ist mehrfach schwerbehindert. Das sieht man jedoch erst auf den zweiten Blick.

Carla hat eine Zerebralparese mit extremer Entwicklungsverzögerung. Zu den Symptomen gehören Bewegungsstörungen und kognitive Einschränkungen. Zudem ist das kleine Mädchen sehbeeinträchtigt, und sie kann weder allein laufen noch feste Nahrung zu sich nehmen noch sprechen. Laute oder Schreie ersetzen Worte. „Bam“, „Dada“, „Mama“ und „Papa“ sind die einzigen Begriffe, die sie derzeit zu sagen vermag; sowie die Vokale. Und so lauscht sie ihrem Lieblingslied „A-E-I-O-U“ stundenlang auf ihrer Toniebox und singt dabei mit.

Carla unterwegs mit ihrem Kinder-Rollator, den übrigens
auch ihre Schwestern gern mal zum Spielen mopsen

„Leben ist das, was passiert, während du andere Pläne machst“, sagte einst schon John Lennon, und so erging es auch Sylvia und Ingo Feld. Sie Bankangestellte, er Ingenieur. Als sie vor dreieinhalb Jahren Zwillinge erwarteten, ahnten sie, sie brauchen sich keine neuen Hobbys mehr suchen. Dass sie auch ihre alten Hobbys nicht weiter würden ausüben können, das konnte damals keiner voraussehen.

Die Schwangerschaft verlief zunächst normal. Die Kontrolle bei den eineiigen Zwillingen war engmaschig und nichts deutete darauf hin, dass etwas nicht stimmen könnte. Doch je näher der Geburtstermin rückte, desto häufiger plagten die werdende Mutter Schmerzen. Ein geplanter Kaiserschnitt war zwar längst beschlossene Sache, aber dann, am Tag, an dem Carla und Thea als Frühchen geboren werden sollten, fehlte es an Kapazitäten im Krankenhaus, an Zeit, an der passenden Behandlung für die damalige, plötzlich dramatische Situation. Es kam zum Not-Kaiserschnitt und schnell wurde klar, dass etwas nicht stimmte.

Während Thea, der heute gesunde Zwilling, direkt nach der Entbindung zu wenig Blut hatte und mit Transfusionen versorgt werden musste, hatte Carla Hirnblutungen, Krämpfe und epileptische Anfälle. Es folgten drei Monate Krankenhaus für das kleine Mädchen, mit Intubation, Beatmung, Operationen. Durch diese gravierenden Behandlungen sind wiederum Teile des Darms abgestorben und weitere Eingriffe wurden erforderlich. „Wir wussten damals nicht, ob sie es schaffen würde“, sagt Ingo Feld. „Und wir hatten ja auch die Frieda und dann die Thea zuhause, deshalb mussten wir schnell wieder funktionieren. Wir haben uns im Krankenhaus und zuhause abgewechselt und uns selbst kaum noch gesehen.“

Papa Ingo schubst an, Carla bleibt konzentriert

„Dass Carla behindert ist, das haben wir eigentlich erst vier Monate später realisiert“, fügt Sylvia Feld hinzu. „Das ganze Ausmaß hat uns keiner erklärt, bis wir dann selbst gemerkt haben, dass unsere Tochter ihren Kopf nicht heben und sich nicht drehen kann.“ Noch heute ist die Familie manchmal fassungslos über den Pragmatismus, der ihnen damals in der Klinik entgegengebracht wurde. Aber sie wuchsen mit ihren Aufgaben.

Das klassische Familienglück uminterpretiert, haben die Eltern Carlas Schicksal angenommen und sich mit ihm arrangiert. Da ihre Tochter rund um die Uhr Betreuung braucht, bleibt für eigene Befindlichkeiten wenig Raum. Hinzu kommen bürokratische Hürden, die den Alltag erschweren: „Man muss immer kämpfen bei Ämtern und Krankenkassen, um Unterstützung und Gelder, aber das ist schließlich meine Pflicht“, sagt Sylvia Feld. „Es geht ja um mein Kind, und da kommt die Löwenmutter in mir zum Vorschein.“

Während Frieda und Thea in die Darmstädter Kita am Ruthsenbach gehen, besucht Carla die Integrative Kindertagesstätte der Lebenshilfe in der Mauerstraße. Sylvia und Ingo Feld wünschen sich mehr Flexibilität in der Kinderbetreuung, denn mit Jobs und Pflege hat ein Tag oftmals gar nicht genügend Stunden. Und selbst in der Nacht ist die Ruhe rar, denn Carla wacht oft auf und weckt dann durch ihr Geschrei die Schwestern. „Ich glaube, für Carlas Gehirn ist das noch schwieriger, so einen ganzen Tag zu verarbeiten“, vermutet Ingo Feld. „Sie braucht dann unseren Trost und schläft auch schnell wieder ein. Aber so eine Nacht kann lang werden, wenn sie jede Stunde aufwacht.“

Yeah, rutschen! Mama Sylvia bleibt vorsichtshalber nah dran


Mama Sylvia Feld beim Trampolinspringen, das offesichtlich beiden Spaß macht

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Im Sommer hatte Carla eine weitere OP, dieses Mal am Nervensystem. Noch bis vor kurzem litt die Dreijährige nämlich zusätzlich an einer Spastik, die ihre Bewegungen stark beeinflusste, ihre Muskeln versteifte und ihr Gleichgewicht störte. Bei dieser Operation in der Wirbelsäule wurden jetzt diejenigen Nerven durchtrennt, die die Spastik auslösen. Seitdem macht Carla große Fortschritte in der Fortbewegung, läuft fleißig mit einem kleinen Kinder-Rollator und fährt sogar auf einem speziell für sie angefertigten Fahrrad. Im Garten gibt es ein Trampolin, Schaukeln und Rutschen. „Wir haben eine große und eine kleine Rutsche. Auf der großen Rutsche rutschen Mama oder Papa mit, aber auf der kleinen Rutsche kann die Carla sogar ganz alleine rutschen“, erklären Frieda und Thea ziemlich stolz. Doch ist es nicht immer einfach für die beiden, stets Verständnis für ihre behinderte Schwester zu haben. „Aber das müssen sie auch nicht“, findet Sylvia Feld. „Sie müssen allerdings schon viel zurückstecken.“ Denn je weniger auf einer täglichen To-Do-Liste steht, umso einfacher ist der Alltag der Familie zu bewältigen. Während die Freundinnen also tägliche Nachmittagstermine bei Kinderballett und Co. haben, spielen Thea, Frieda und Carla stattdessen überwiegend zuhause.

Dabei kann es schonmal zoffen, und auch für Carla gibt es dann kein Pardon. „Sie ist für uns alle ein ganz normales Kind“, sagt Sylvia Feld. „Sie wird gefordert und gefördert, bekommt keine Vorrechte und wird genauso behandelt wie ihre Schwestern.“ In der Umsetzung ist das nicht immer einfach, denn wenn Carla etwas will, dann kommt sie und zieht an ihren Eltern oder Geschwistern. Wenn sie wütend ist, dann schreit sie. Sie duldet keinen Aufschub, versteht nicht, warum sie warten soll, fordert lautstark und vehement die Befriedigung ihrer Bedürfnisse ein, während die der anderen dann eben doch oft hintanstehen müssen. Und so ist der Alltag zwischen Müssen, Wollen und Können ein ständiger Spagat. So sind Mutter und Vater hin und wieder nervlich am Rande der Aushaltbaren und die Kraftressourcen an manchen Tagen erschöpft.

Familie on Fahrrad-Tour, jeder auf seine Weise

Und doch ist da dieser zuversichtliche Blick in die Zukunft, in eine Zeit, in der auch wieder Zweisamkeit, Träume und Hobbys möglich sein werden. „Carla wird schon ihren Weg gehen“, ist Sylvia Feld optimistisch. „Wir versuchen, sie so selbstständig wie möglich zu machen, damit sie irgendwann vielleicht in einer Wohngruppe für sich selbst leben kann.“
Carla ist derweil im Garten. Sie klettert mühsam auf die kleine Rutsche, und man sieht, wie viel Kraft es sie kostet. Als sie rutscht, fängt sie an zu strahlen, und es wird klar: Jeder Schritt hat sich gelohnt.