Die Ohren drehten sich, um das leise Rascheln aufzufangen. Geduld…

Glänzende Krallen schimmerten unter dem grauen Pelz hervor. Kräftige Hinterbeine wurden unter den Bauch gezogen. Der Jäger war sprungbereit. Zu spät bemerkte die dicke Ratte ihren Verfolger. Die Katze sprang in dem Moment ab, in dem am Ende der Gasse Schritte ertönten. Überrascht blickte sie sich um, und die Ratte verschwand in die Schatten.

Drei Gestalten waren im schwachen Licht des Mondes am Ende der Gasse erschienen. Geschwind gingen sie den engen Weg entlang. Die graue Katze fauchte wütend. Sie musste sich nun ein neues Opfer suchen. Trotzdem siegte ihre Neugier und sie folgte den drei Gestalten. Wer schlich schon nachts durch diese Gassen, außer hungrige Straßenkatzen auf Futtersuche? Die Gestalten bogen in die nächste Gasse ab. „Hier muss es sein“, meinte die Größte und trat vor in das schwache Licht einer alten, flackernden Laterne. Nun konnte man erkennen, dass es Frauen waren, Schwestern. Bis auf ihre Größe glichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Braune Locken fielen ihnen über den Rücken und große, dunkle Augen leuchteten unter ihren Hüten hervor. Sie waren vor den finsteren Wänden alten, schon lange unbewohnten Häusern stehen geblieben, die hoch in den Himmel ragten und das ferne Licht der Sterne verschluckten. Die älteste der Schwestern zog ein dickes Buch aus ihrer Manteltasche hervor und schlug es beim Lesezeichen auf. „Den Schlüssel, Rosa“. Das kleinste und jüngste der Mädchen trat vor und legte den Schlüssel zwischen die alten, brüchigen Mauersteine eines Hauses. Dann trat Rosa wieder zurück zu ihren großen Schwestern. Die Älteste legt das Buch auf den Boden und deutete auf einen Textabschnitt. „So wie wir es zuhause geübt haben, verstanden?“ Die anderen beiden nickten. Sie nahmen sich an den Händen und blickten auf die Mauer vor ihnen. Die ferne Kirchturmuhr schlug zwölfmal und der Mond brach hinter den Wolken hervor. Sein Licht fiel auf die Schwestern und die Mauer vor ihnen und ließ den großen, rostigen Schlüssel glitzern. Die Mädchen begannen leise vor sich hin zu murmeln. Es war eine fremde Sprache, die außer ihnen vermutlich niemand verstand. Verwundert setzte sich die graue Katze neben einen lange nicht mehr benutzten Hauseingang und beobachtete das Schauspiel. Ein leichter Windhauch wehte durch die Gasse. Sie beschleunigten ihre Worte und auch der Wind nahm zu. Bald schon fegte er um sie herum, schneller und immer schneller. Fauchend krallte sich die Katze an einer ausgetretenen Fußmatte fest. Der Wind wirbelte Blätter auf und riss den Mädchen ihre Hüte vom Kopf. Davon ließen sie sich jedoch nicht ablenken. Während sie ihre Beschwörung sprachen und schon beinahe schrien, um den peitschenden Wind zu übertönen, blickten sie wie gebannt auf die Hauswand vor sich. Der alte Schlüssel glühte auf und schob sich zwischen die Steine des Gemäuers. Dort hatte sich plötzlich ein altes, rostiges Türschloss gezeigt, welches ebenfalls zu glühen begann. Die Mädchen schlossen die Augen, um sich zu konzentrieren. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und ein lautes Klicken ertönte. Mittlerweile glich der Wind schon fast einem Sturm, der die Schwestern umtobte. Fensterscheiben zersprangen und Dachziegel wurden durch die Luft gewirbelt. Nur den Mädchen passierte nichts. Genauso wenig wie dem Schlüssel. Nun erbebten die Hauswände zu beiden Seiten des Schlüssellochs. Ein feiner, glühender Riss brach sich senkrecht seinen Weg durch die Wand. Der goldene Schimmer wurde heller und heller. Dann ertönte ein lauter Donner. Er schien direkt aus der brüchigen Wand zu kommen. Die Linie wurde breiter und die bebenden Wände schoben sich laut knarrend auseinander. Meter für Meter scharrten sie über den Boden. Hinter ihnen erschienen die roten Mauersteine eines anderen Gebäudes. Staub wirbelte auf, als das versteckte Haus nach vorne rückte und seinen eigentlichen Platz einnahm. Die Schwestern beendeten die Beschwörung und der Wind legte sich. Die Stille der Nacht senkte sich wieder auf die schmale Gasse. Das Herz der Katze hämmerte gegen ihre Rippen und zitternd löste sie sich aus ihrer verkrampften Haltung. Ungläubig starrte sie das neue Haus an. Es war vergessen gewesen. Lange war es schon unbewohnt gewesen und irgendwann aus der Erinnerung der Menschen verschwunden. Die Schwestern hoben das Buch auf und sammelten ihre Hüte ein. Vorsichtig gingen sie auf das Gebäude zu, das sie soeben zum Vorschein gebracht hatten. Der Schlüssel steckte noch im Schlüsselloch und die Tür ließ sich leicht öffnen. Nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatten, traten die Drei ein. Die Dunkelheit verschluckte die geheimnisvollen Schwestern noch bevor die Tür ins Schloss fiel.

Die graue Katze schlug ihre gelben Augen auf und gähnte. Schon wieder dieser Traum. Sie streckte sich ausgiebig und sprang dann aus ihrem weichen Körbchen, um in die Küche zu laufen. Ihre drei jungen Frauchen waren schon aufgestanden, das verriet der köstliche Duft, der aus der Futterschale strömte und ihren Magen knurren ließ. „Das hier ist auf jeden Fall besser, als die fette Ratte aus meinem Traum“, dachte sie. Schnurrend kauerte sich die Katze vor ihren Napf und ließ es sich schmecken. „Wie gut ich es doch habe“, dachte sie und blickte aus dem Fenster des rot gemauerten Hauses auf die schmale Gasse hinuner, auf der sich fröhlich die Leute tummelten. „Wie gut wir es hier doch alle haben.“

Die Autorin

Ella Schwinnen ist 14 Jahre alt und kommt aus Roßdorf. Ihre Leidenschaft ist das Schreiben von Geschichten. Im vergangenen Jahr hat sie den hessischen Literaturpreis „OHNEPUNKTUNDKOMMA“ gewonnen.