Und genau darum geht es bei dem Unterstützungsangebot, das ausschließlich von Ehrenamtlichen übernommen wird, die keine Aufwandsentschädigung für ihre Arbeit bekommen und auch nicht mit Außenstehenden darüber reden dürfen.
72 Männer und Frauen sitzen jeweils 12 Stunden im Monat am Telefon in einer Dienstwohnung, deren Adresse unbekannt ist. Alle Gespräche sind anonym, woher Menschen anrufen und wer sie sind, spielt keine Rolle. Pfarrerin Gudrun Goy und Pastoralreferent Ralf Scholl leiten die Darmstädter Telefonseelsorge – wir haben mit ihnen über ihre wertvolle Arbeit gesprochen.
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„Wir können keine Probleme lösen, aber wir können sie mit aushalten.“
Wenn Sie es kurz auf den Punkt bringen sollten: Was ist die Telefonseelsorge?
Ralf Scholl: Es ist ein Ort, eine Einrichtung, die für Menschen in Krisen und schwierigen Lebenssituationen da ist. Wir haben ein offenes Ohr, ohne zu werten. Wir hören zu und erkennen Menschen in ihren Nöten, aber auch in ihren Ressourcen.
Wer ruft bei Ihnen an?
Ralf Scholl: Jeder Mensch kann uns anrufen. Aufgerundet haben wir im Jahr 14.000 Anrufe, das ist relativ stabil über die letzten Jahre. Daraus ergeben sich 11.500 Gespräche. Nicht jeder Anruf führt zu einem Gespräch, es gibt Anrufer, die wieder auflegen, ein Teil sind Scherzanrufe.
Die Telefonseelsorge Darmstadt ist ein Verein, der vom Bistum Mainz und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau getragen, also finanziert wird.
Zuständig ist sie für Menschen in einem relativ großen Gebiet, das ungefähr Südhessen umfasst. Sie gehört zu mehr als 100 Telefonseelsorge-Stellen in Deutschland, die Tag und Nacht erreichbar sind, auch an Wochenenden, Sonn- und Feiertagen.
Alle Beraterinnen und Berater arbeiten ehrenamtlich. Sie werden sorgfältig ausgewählt und für den Dienst am Telefon umfassend ausgebildet, professionell begleitet und weitergebildet.
Die meisten Anruferinnen und Anrufer sind zwischen 40 und 70 Jahre alt, also in der Mitte des Lebens, da wo Sollbruchstellen wie Krankheiten, Beziehungsprobleme oder Jobschwierigkeiten auftreten. Aber auch Kinder und Jugendliche melden sich. Vergangenes Jahr hatten wir 82 Anrufe von 10- bis 14-Jährigen, 186 Anrufe von 15- bis 19-Jährigen, 1.015 Anrufe gab es von jungen Erwachsenen zwischen 20 und 29 Jahren.
Alle Gespräche sind ja anonym, woher wissen Sie, wer bei Ihnen anruft?
Gudrun Goy: Selbstverständlich ist jedes Gespräch anonym. Von wo die Anrufer sich melden, können wir nicht nachvollziehen, es wird nichts abgefragt oder dokumentiert, sodass die Gespräche in einem geschützten Raum stattfinden. Auch unsere Mitarbeitenden bleiben anonym und geben nichts von sich preis.
Ralf Scholl: Aber wir führen eine anonymisierte Statistik über jeden Anruf. Darin erfassen wir allgemein, wer zu welchem Thema anruft.
Gudrun Goy: Das ist sehr unterschiedlich. Manche Menschen wollen in einer akuten Belastungssituation kurz mit jemandem sprechen, brauchen jemanden, der ihnen zuhört, der einfach da ist. Anderen liegt etwas auf dem Herzen und sie haben gerade oder überhaupt niemanden, mit dem sie reden können oder wollen. Im Durchschnitt dauern Gespräche 20 Minuten, manche etwas länger, andere kürzer. Die Ehrenamtlichen geben zunächst Raum. Sie hören aktiv zu und schwingen empathisch mit. Sie sind so in Gesprächsführung geschult, dass sie die Gespräche leiten und so steuern, dass sich das Gespräch schließlich möglichst nur auf ein Thema fokussiert und wir wertschätzend mit diesem Anliegen umgehen. Manche Anrufer haben sehr viele Themen. Viele rufen einmal an, andere mehrfach, manche begleiten wir schon über Jahre, das ist sehr unterschiedlich.
Gibt es eine Zeit, zu der besonders viele Menschen anrufen?
Ralf Scholl: Grundsätzlich sind wir rund um die Uhr mit einer Leitung auf Draht. Zwischen 18 und 22 bis 23 Uhr kommen viele Anrufe, in der Zeit haben wir wochenweise auch eine zweite Leitung offen, und sind am frühen Abend doppelt besetzt. Außerdem sind wir mit anderen Telefonseelsorgestellen in Frankfurt und Mainz vernetzt, an die Gespräche automatisch weitergeleitet werden, wenn bei uns belegt ist.
Was sind denn häufige Themen?
Gudrun Goy: Das Hauptthema derzeit ist Einsamkeit, nicht nur bei Älteren. Das ist seit Corona noch mal verstärkt worden. Es gibt aber auch andere häufige Themen, etwa familiäre Bindungen, Ängste, körperliches Befinden, psychische Erkrankungen. Wir haben festgestellt, dass nach Corona auch bei Studierenden Einsamkeit und Kontaktschwierigkeiten große Themen sind. Viele wissen manchmal aufgrund der Erfahrungen durch den Lockdown und andere Coronamaßnahmen gar nicht mehr, wie Kontaktaufnahme im echten Leben eigentlich geht. Auch in akuten Trauerphasen sind wir da und begleiten Menschen durch eine schwere Zeit.
Gibt es Tabus oder Gespräche, die Sie ablehnen?
Ralf Scholl: So einfach ist das nicht. Denn eigentlich gibt es bei uns keine Tabuthemen. Aber es gibt Grenzen, und zwar dann, wenn jemand in einem Gespräch bedrängend wird, persönlich verletzend oder aggressiv. Ruft beispielsweise jemand bei uns an, um rechtsradikale Parolen loszuwerden, beenden wir das Gespräch. Etwas anderes ist es, wenn diese Person beispielsweise darüber sprechen möchte, wie sie aus der Szene aussteigen kann.
Werden die Gespräche manchmal auch therapeutisch?
Gudrun Goy: Nein, das bleibt im Seelsorgerischen. Wir sprechen mit den Menschen so, dass sie zu einer Selbstwirksamkeit kommen, dass sie vielleicht getröstet werden oder Hoffnung schöpfen in dem Moment. Aber das Ziel ist nicht eine konkrete Veränderung, wie das in einer Therapie der Fall ist.
Ralf Scholl: Wir sind ein wichtiger Pfeiler im psychosozialen Netzwerk in Darmstadt, weil etwa 35 % der Anrufer Menschen mit psychischen Erkrankungen sind. Sie brauchen oft einen Impuls für den Tag, dann spricht man kurz mit ihnen, um da zu sein. Wir achten darauf, dass keine persönliche Bindung entsteht. Dabei bleiben wir aber immer authentisch, d.h. wenn jemand öfter anruft, tun wir nicht so, als würden wir ihn oder sie gar nicht kennen.
Was tun Sie, wenn jemand ganz offensichtlich ein großes Problem hat oder sogar suizidgefährdet ist?
Ralf Scholl: Ursprünglich wurden wir ja für die Suizidprävention gegründet. Die erste Stelle 1958 hieß auch noch „Stelle zur Lebensmüdenbetreuung“, die wurde in England von einem Pfarrer initiiert und dann hier übernommen. Unsere Mitarbeitenden sind dafür geschult, mit Menschen zu sprechen, die Suizidgedanken haben, ohne das zu werten.
Was machen Sie dann, wie unterstützen Sie diese Menschen?
Ralf Scholl: Wir hören ihnen zu, nehmen sie in ihren Gefühlen an, lassen sie offen sprechen, ohne sie „bekehren“ zu wollen. Wir vermitteln, dass wir den Menschen verstehen, keine Angst vor den Themen haben und in den Kontakt kommen möchten mit dem oder der Anrufenden. Oft hilft das bereits in akuten Krisen. Wir versuchen auch, Menschen an das Hilfesystem anzudocken. Wenn es z. B. um Familienprobleme geht, verweisen wir auf Unterstützungsangebote der Erziehungsberatung. Kinder ermutigen wir in bestimmten Fällen, sich beim Kinderschutzbund Hilfe zu holen. Auch Unterstützung für Eltern oder Suchtberatung regen wir an. Wir benennen allerdings nur Institutionen und stellen keine direkten Kontakte her. Wir können keine Situation verändern, aber wir können sie mit aushalten, das ist schon sehr viel.
Wer engagiert sich denn bei der Telefonseelsorge?
Ralf Scholl: Das sind Menschen wie Du und ich. Viele haben Interesse an Selbstreflektion, auch an Selbsterfahrung. Unsere Ehrenamtlichen kommen aus verschiedenen Richtungen, das kann der selbstständige IT-Berater sein, eine Sozialarbeiterin aus dem Verwaltungsbereich oder ein Angestellter von Merck. Viele wollen etwas Sinnvolles tun, haben eine Nähe zu seelsorgerischer Arbeit oder Erfahrung in diesem Bereich, möchten etwas weitergeben, sich sozial einbringen. Es ist meist auch kein vorübergehendes Engagement. Wir haben Mitarbeitende, die schon 40 Jahre dabei sind. Im Schnitt sind Ehrenamtliche zehn Jahre im Team, das ist eine sehr lange Zeit.
Was müssen Mitarbeitende mitbringen?
Gudrun Goy: Wichtig ist, dass sie Menschenliebe mitbringen, ein Interesse für andere, für ihre Sorgen und Nöte. Aber sie brauchen auch Verbalisierungsfähigkeit, müssen sich mitteilen, aber auch aktiv zuhören können. Sie sollten auf andere eingehen können und selbst emotional möglichst stabil sein, damit sie von den Themen, mit denen sie konfrontiert werden, nicht hilflos überflutet werden. Insgesamt ist es ein sehr bereicherndes Ehrenamt, das manchmal auch belastend sein kann.
Werden die Ehrenamtlichen dafür ausgebildet?
Ralf Scholl: Ja, sehr intensiv. Das beginnt beim Infotag, wo wir mit Interessierten ins Gespräch kommen, sie kennenlernen und ein Gefühl für ihre Motivation entwickeln. Dann haben wir eine sehr langwierige Ausbildung der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Das geht über ein Jahr mit mindestens 150 Ausbildungsstunden. Unsere Ehrenamtlichen wissen gerade das zu schätzen: Sie bekommen eine sehr fundierte Ausbildung, können sich in Themen, die sie bewegen, weiterbilden, bekommen eine regelmäßige Supervision. Sehr viele empfinden allein schon das als große Bereicherung. Wir haben auch einen Hintergrunddienst: Als Hauptamtliche stehen wir 24 Stunden zur Verfügung, wenn unsere Mitarbeitenden schwierige Gesprächssituationen hatten und darüber reden möchten. Viele Ehrenamtliche sagen, die Telefonseelsorge sei keine Einbahnstraße: Sie bekommen viel Wertschätzung für das, was sie leisten. Ihnen wird Vertrauen geschenkt und sie erhalten einen Einblick in das Leben und die Gedankenwelten anderer. Das bringt viele dazu, das eigene Leben mit mehr Demut zu betrachten.
Das Interview führte Anke Breitmaier
Infos
Menschen in schwierigen Lebenssituationen bekommen bei der Telefonseelsorge im persönlichen Telefongespräch oder per Chat oder E-Mail-Unterstützung.
Telefonisch erreichbar ist die Telefonseelsorge täglich rund um die Uhr unter der kostenfreien Nummer 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222.
Wollen Sie anderen Menschen in Krisen beistehen? Die Telefonseelsorge Darmstadt sucht ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!
• Der nächste Ausbildungskurs startet im Januar 2025.
• Zuvor gibt es einen Informations-Abend als digitales Zoom-Meeting am 14. November 2024.
• Für die Teilnahme ist eine Anmeldung erforderlich, um den Einwahllink zu erhalten.
• Bei Interesse einfach melden unter Telefon 06151 – 43143.
Mehr dazu unter www.telefonseelsorge-darmstadt.de/ehrenamt.htm
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