Einen Krieg wie den in der Ukraine zu verstehen, in so unmittelbarer Nähe, ist jedoch unmöglich. Der Krieg ängstigt die meisten Menschen: Erwachsene wie Kinder. Der Krieg kam so plötzlich über uns, während all die Ängste, die uns bisher plagten, auch noch da waren: Ängste, die die Pandemie mit sich brachte, Existenzängste, Versagensängste, Schulängste, soziale Ängste und nicht zuletzt Phobien.
Dabei ist die Angst – evolutionär gesehen – eigentlich eine sinnvolle Sache, denn sie kann Leben retten. „Angst ist dafür da, in wirklich gefährlichen Situationen zu reagieren: zu fliehen, zu kämpfen oder zu erstarren“, erklärt Edith Linow, Kinder- und Jugendpsychiaterin aus Darmstadt. „Wenn man also beispielsweise in freier Wildbahn einem Löwen begegnen würde, dann wäre es schon gut, Angst zu haben.“

Das Herz-Kreislaufsystem wird hochgefahren, die Nebenniere produziert Adrenalin, Herzfrequenz und Blutdruck steigen. Innerhalb von Sekunden werden die Muskeln stärker durchblutet und das Gehirn quasi ausgeschaltet. Der Körper ist bereit, augenblicklich zu handeln. Das kostet enorme Energie. Und so funktioniert die Angst für den Moment gut, auf Dauer wird der Körper allerdings enorm gestresst. „Wenn sich die Angst also irgendwann verselbständigt, wenn jemand ständig Angst hat, dann ist das nicht mehr gesund. Man kann Angst vor Hunden haben, aber wenn einem ein Hund an der Leine entgegenkommt, dann ist die Angst einfach nicht gerechtfertigt“, sagt die Psychiaterin.

Diese Angst vor Hunden ist eine Phobie; in diesem Fall die Kynophobie. Viele Menschen haben solche Ängste, oft vor Schlangen oder Spinnen, dabei sind die in unseren Breitengraden gar nicht gefährlich. Aber auch hier meldet sich die Evolution: Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika, wo es jede Menge Schlangen und Spinnen gibt. Das erklärt vermutlich, warum der Mensch selten Angst vor Fröschen hat, obwohl die oft viel giftiger und somit gefährlicher sein können. Aber giftige Frösche leben überwiegend in Südamerika, nicht in Afrika.

Da uns nicht allzu oft Schlangen begegnen, kann man mit solch einer Ophidiophobie ganz gut durch das Leben kommen. Edith Linow nennt diese Ängste „isolierte Ängste“. Das kann auch die Angst vor Gewitter sein, vor Aufzügen, vor Clowns oder vor Spritzen. Letztere ist übrigens bei Männern deutlich häufiger anzutreffen.

Mut ist nicht
die Abwesenheit
von Angst,
sondern ihre
Überwindung.

Nelson Mandela

All diese Ängste lassen sich meist vermeiden. Bei Angst vor Clowns besucht man eben keinen Zirkus, bei Angst vor dem Aufzug läuft man die Treppe. Diese Angst kann man überwinden, indem man sich überlegt, am besten aufschreibt: Was kann schlimmstenfalls passieren? Wer sich überwindet, doch einmal den Fahrstuhl zu nehmen, weil der 25. Stock ziemlich hoch erscheint, der wird in der Regel feststellen, dass sich die schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheitet haben. Ansonsten lässt es sich mit Phobien leben, auch ohne Konfrontationstherapie.

Schlimm für Betroffene wird es dann, wenn Ängste nicht mehr greifbar sind, sagt Edith Linow: „Dann, wenn man der Angst nicht ausweichen kann. Wenn man beispielsweise Angst vor der Schule hat, dann kann man das als Kind in Deutschland vor der 10. Klasse ja nicht wirklich vermeiden. Gerade Schulängste werden schnell chronisch. Da muss man sofort handeln und schauen, wo die Gründe liegen.“

Kinder mit sozialen Phobien kamen bislang recht gut durch die Pandemie, denn sie konnten angstmachende Kontakte hervorragend vermeiden. Generalisierte Angststörungen, bei denen man permanent in Angst vor allem Möglichen ist, kennen keine Zeit, keinen Ort, keine Pandemie und keinen Kriegszustand. Sie sind omnipräsent. Wird eine Angst besonders intensiv wahrgenommen, spricht man von Panik. Und die wirkt sich auch auf den Körper aus: durch Kurzatmigkeit, Herzrasen und Schweißausbrüche.

Wichtig ist, Ängste bei Betroffenen immer ernst zu nehmen. Die beiden Sozialpädagoginnen Annette Meinecke-Vogel und Tina Rüger arbeiten in der Schulsozialarbeit für die Beratungsstelle KOMM. Sie haben während der Pandemie eine enorme Zunahme von Ängsten bei den Schülerinnen und Schülern bemerkt. Am heilsamsten ist dann fast immer – egal ob in der Schulsozialarbeit oder in der Familie daheim – das Gespräch, so Rüger, um der Angst und ihrem Ursprung auf den Grund zu gehen:

„Um welche Angst geht es? Wie fühlt sie sich an? Wo spürst du die Angst? Und was wäre das Schlimmste, das passieren könnte, wenn Deine Angst wahr wird? Da muss man dann ansetzen und nach Ankern suchen.“

Gewappnet für das schlimmste Szenario, suchen Betroffene mit den Pädagoginnen nach Auswegen. Hat ein Kind Angst, sitzenzubleiben, dann schaut man, was daran wirklich schlimm wäre. Freunde könnte man auch in der Pause noch treffen, und die Zukunft wäre dadurch mitnichten vermasselt. „Wir versuchen, alles immer kleiner herunterzubrechen. Und plötzlich ergibt sich dann automatisch: So unsicher ist die Situation gar nicht. Die Angst ist zwar noch nicht weg, aber sie ist kleiner geworden.“

Doch was, wenn es das Schlimmste, das passieren könnte, tatsächlich das Schlimmste ist? Auch die Mitarbeiterinnen von KOMM werden in nächster Zeit vermutlich traumatisierte Kinder aus der Ukraine betreuen müssen. Und was kann man tun, was sagen, wenn man eine geflüchtete Familie bei sich aufnimmt? „Am besten: Ich bin da, und ich ertrage Deine Geschichte. Ich höre Dir zu, ich weine mit Dir, und ich lass Dich nicht allein“, rät Meinecke-Vogel. „Es ist eine Katastrophe, und ich habe keine Lösung. Aber ich halte Deinen Schmerz mit Dir aus. Und dann muss man schauen, was man tun kann, um vielleicht die nächste Stunde oder gar den nächsten Tag durchzustehen.“

Der große Gegner von Angst ist Sicherheit. Die kann man erfahren durch Selbstwirksamkeit, also indem man sich auf das besinnt, was man gut kann und bewirken kann: Bewegung beispielsweise, eine Sportart, ein Hobby oder auch die Natur sowie gemeinsame Zeit mit Freunden oder Eltern. Doch in unsicheren Zeiten sind auch sie oft von Ängsten geplagt. „Das Kind hat aber auch ein Recht zu wissen, wie sich die Eltern gerade fühlen. Auch Eltern dürfen sagen, wenn sie besorgt sind oder Angst empfinden“, empfiehlt Meinecke-Vogel.

Schließlich ist „Angst zu haben“ erstmal gar nicht schlimm. Oder wie es der südafrikanische Freiheitskämpfer Nelson Mandela sagte: „Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern ihre Überwindung.“

Adressen:

KOMM
Beratung in Schule und Sozialraum
Tel.: 06151 428870
https://www.komm-cjd.de
Hier kommt Ihr zum Blog:
https://komm-cjd-blog.de
Bald gibt es eine Chat-Funktion, über die man sich anonym mit den Pädagoginnen austauschen kann

Edith Linow
Praxis für Kinder- und
Jugendpsychiatrie
Tel.: 06151 6064880
www.kinderpsychiatrie-linow.de

Tipps & Tricks gegen Angst

Sich fragen:
Ist diese Angst jetzt in diesem Moment, hier wo ich bin, wirklich real?

Atemübung Kerzenauspusten:
Man holt Luft und pustet mit ganz langem Atem die Kerze aus.

Schmetterlingsumarmung:
Hände überkreuz über der Brust verschränken., die Daumen zeigen Richtung Hals. Augen schließen. Im Wechsel mit beiden Händen auf die jeweils gegenüberliegende Schulter klopfen.
Gemeinsam singen

Schnauben wie ein Pferd:
Wenn man mit dem Mund außergewöhnliche Bewegungen macht, dann ist das Großhirn damit voll beschäftigt, und es konzentriert sich nicht mehr so sehr auf die Angst.

Auf einem Bein stehen:
Das körperliche Gleichgewicht muss gewahrt werden, und nimmt das emotionale ein Stück mit. Dazu noch rückwärts zählen von 25 bis 0.

Rechtshänder wird Linkshänder:
und andersherum. Ein Bild malen mit der anderen Hand, lenkt von aufkommender Panik ab.

Die Hosentaschen-Mama:
ein gemaltes Bild oder Foto von Mama oder Papa in der Hosentasche für den Notfall kann helfen bei Trennungsängsten. Auch Schleichtiere in der Tasche machen Mut. Besonders geeignet: Tiere, die besonders stark sind oder fliegen können.

Ab wann und wie erkläre ich Kindern den Krieg?

Wer fragt, will Antworten: Immer, wenn ein Kind mit Fragen kommt, sollte man die immer beantworten, unabhängig vom Alter.

Ehrlich und sachlich sein: Kleineren Kindern könnte man beispielsweise erklären, dass Erwachsene im Streiten manchmal schlimmer sind als Kinder, dass es gerade einen großen Streit in der Welt gibt und jemand unbedingt gewinnen will, dass aber fast alle Länder der Erde versuchen, eine Lösung zu finden. Geborgenheit vermitteln, trotz eigener Ängste. Hoffnung machen. Nicht pauschalisieren, um zukünftige Vorurteile zu vermeiden.

Tipp: In den Logo-Kindernachrichten sind brisante Themen sehr gut erklärt. Selbst Eltern haben dort schon schwierige Zusammenhänge des Weltgeschehens endlich begriffen.