Ein Beitrag von Monika Klingemann

Wütendes Schreien dringt aus dem Kinderzimmer, dann ein Rumms, dem nach einer Schrecksekunde lautes Weinen folgt. Mal wieder eine Auseinandersetzung zwischen den Geschwistern. „Oh Mann, müsst ihr euch denn immer streiten?“

„Ja, müssen wir“, sollten die Kinder ihren entnervten Erziehungsberechtigten jetzt entgegenrufen! „Wir lernen nämlich gerade fürs Leben.“

Streit zwischen Geschwistern gehört zum Familienalltag wie der nächste Schnupfen in die kalte Jahreszeit: Man kann darauf warten, wann es wieder losgeht. Egal ob zwei Kinder da sind oder mehrere Geschwister für Trubel sorgen: Wütende Wortwechsel, Reibereien um Kleinigkeiten, Hauen und Treten oder Sticheleien sind – je nach Alter und Temperament unterschiedlich ausgeprägt – in Familien mit mehr als einem Kind oft an der Tagesordnung.

Nichtiger Anlass, tiefere Gründe

Die Anlässe für Streit sind vielfältig, drehen sich aber meist um drei Hauptthemen: um Dinge – sei es die Paw-Patrol-Tasse oder das iPad –, um Interessen – wer muss im Rollenspiel das Baby sein – oder um Gerechtigkeitsthemen: „Die hat aber mehr Kuchen!“

Im Vordergrund stehen also diese Fragen, doch oft liegen andere Themen und Bedürfnisse darunter: Wer hat das Sagen? Kann ich meine Wünsche durchsetzen? Und auch: Wen haben Mama und Papa lieber? Es geht also um Rivalität, Konkurrenz, aber auch um Abgrenzung von der Schwester, vom Bruder. Deshalb fetzen sich besonders Geschwister gern, bei denen der der Altersabstand gering ist. Auch Bruder-Bruder- oder Schwester-Schwester-Konstellationen kriegen sich schneller in die Haare.
Geschwisterstreit ist laut, anstrengend, manchmal nervenaufreibend und letztlich unvermeidbar – genau wie die Schniefnase bei Schmuddelwetter. Doch ebenso wie eine Erkältung auch ihr Gutes hat – sie trainiert unser Immunsystem und sorgt dafür, dass wir uns eine Pause gönnen –, hat das Streiten im Kinderzimmer seinen Sinn und ist wichtig für die Entwicklung unserer Kinder.

Beim Streiten fürs Leben lernen

Im Konflikt mit der Schwester oder dem Bruder lernen Kinder, sich zu behaupten, Angriffe abzuwehren – eine wichtige Voraussetzung, um auch draußen Stopp sagen zu können und sich selbst zu schützen. Wenn der Streit ohne elterliche Schiedsrichterpfeife gelöst wird, erfahren sie Selbstwirksamkeit: Ich kann eine Situation selbst beeinflussen und verändern, bin ihr nicht hilflos ausgeliefert. Das trägt dazu bei, dass man auch später als erwachsener Mensch souveräner mit Widrigkeiten umgeht. Umgekehrt erleben Kinder im Geschwisterstreit auch ihre eigenen Grenzen: Nicht immer geht alles so, wie ich es mir vorstelle, ich muss Frust aushalten. Die Erkenntnis, dass es Kränkungen gibt und sie wehtun, kann auch zu mehr Empathie führen, wenn es eine gute Familien-Streitkultur gibt, in der man übt, sich in die Situation des Gegenübers einzufühlen.

Im Idealfall ist der Geschwisterkonflikt ein Praxiskurs in Verhandlungsführung: Zwei Parteien werden sich ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche bewusst, einigen sich auf Regeln, handeln einen Interessensausgleich aus und merken, dass durch Kompromisse sogar eine Win-win-Situation entstehen kann. Also wirklich ein Lernen fürs Leben.
Das Ganze geschieht im Schonraum Familie, wo gegenseitiges Grundvertrauen da ist und alle sicher sein können: Ich werde geliebt und akzeptiert, auch wenn ich mal zum Wüterich werde. Damit Konflikte ihre fruchtbare Kraft entfalten können, dürfen sie aber nicht in Hass und Demütigung ausarten. Wenn der Streit destruktiv ausgetragen wird, wenn also Schwächen systematisch ausgenutzt werden und das Gegenüber niedergemacht wird, kann er das Selbstwertgefühl nachhaltig schädigen.

Typische Fehler vermeiden

Das Ziel sollte es sein, in der Familie auch im Streit ein wertschätzendes Miteinander zu etablieren. Wenn man als Eltern ein paar Dos und Dontʼs beherzigt, können sich in Zukunft alle entspannter begegnen.

Fehler Nummer 1

Als Schiedsrichter dazwischengehen und entscheiden, wer Recht hat. Im Geschwisterstreit geht es nicht wie vor Gericht um Schuld, sondern darum, die Situation für alle Beteiligten zufriedenstellend zu lösen.

Fehler Nummer 2

Streit zwischen den Kleinen komplett ignorieren. Besonders jüngere Kinder sind damit überfordert. Sie sollte man beim Streiten nicht sich selbst überlassen, sondern moderierend die Grundlagen für konstruktive Streitlösung vermitteln – damit es irgendwann wirklich allein funktioniert.

Fehler Nummer 3

Brüllen, leere Drohungen ausstoßen oder ein Machtwort sprechen. Die einzige Lektion, die so gelernt wird: Wer schreit, gewinnt. Auch sinnfreie rhetorische Fragen sind nicht lösungsorientiert – was soll ein Dreijähriger denn antworten auf eine Frage wie: „Warum ärgerst du deine Schwester immer?“ Selbst wenn es im Alltags-
chaos und bei explodierenden Dezibel-Werten manchmal schwerfällt: Wenigstens wir Erwachsenen sollten uns um Ruhe und Gelassenheit bemühen. Denn die Kinder streiten ja nicht, um uns zu ärgern, uns den letzten Nerv zu rauben oder unsere Geduld auszutesten. Es ist vielmehr so, dass sie in diesem Moment keine andere Lösungsstrategie parat haben.

Eine faire Streitkultur etablieren

Was also tun, wenn im Kinderzimmer mal wieder Eskalationsstufe rot erreicht wird? Einmischen? Laufen lassen?
Nicht jedes kleinere Geplänkel braucht ein elterliches Coaching. Vielleicht schaffen es die beiden Parteien, sich allein zu verständigen. Wenn die geschwisterlichen Emotionen aber überkochen, böse Schimpfworte fallen und Tränen fließen, sollten wir uns einschalten.
„Ui, ihr zwei seid aber gerade richtig sauer!“, wäre ein Einstieg, der die Gefühle der Kinder benennt und ihnen zugleich vermittelt, dass solche negativen Emotionen erlaubt und akzeptiert sind.

Dann sollten wir zuhören und herausarbeiten, was das Problem ist. „Du hast also gerade die Puppe schön schlafen gelegt und Marie braucht den Platz jetzt als Landebasis für ihr Raumschiff – habe ich das richtig verstanden? Hm, das ist natürlich schwierig, wenn ihr beide den weichen Kindersessel wollt …“ Wenn wir die Schwierigkeit der Situation anerkennen und Verständnis für die beiden Standpunkte äußern, zeigen wir, dass wir die Streitenden ernst nehmen und sie uns am Herzen liegen.

Im nächsten Schritt kann man zur Problemlösung einladen: „Wie wollt ihr jetzt weitermachen?“ Vielleicht kommen da schon gute Ideen: „Marie kann den Sessel haben, wenn die Puppe aufgewacht ist.“ Oder wir machen Kompromissvorschläge: „Wäre denn das Kopfkissen auch eine gute Landebahn?“ Auf diese Weise lernen die Kinder, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen, und sehen, dass sich im Miteinander eine Lösung erarbeiten lässt.

Wenn sich eine körperliche Auseinandersetzung zu entwickeln droht, hilft es manchmal, die Streithähne oder -hennen kurz zum Nachdenken zu bringen: „Hey, rangelt ihr nur zum Spaß oder tut ihr euch weh?“ So eine Unterbrechung kann die beiden aus ihren negativen Emotionen herausholen und an die Regeln erinnern: fair bleiben und nichts machen, was man auch selber nicht erleiden möchte.

Sobald eine Situation eskaliert und die Beteiligten in Gefahr kommen, heißt es handeln: die kleinen Berserker trennen, und zwar ohne Schuldzuweisungen. „Ich sehe, ihr zwei tut euch gerade ernsthaft weh. Ihr braucht jetzt mal eine Auszeit!“

Das Verhalten mag falsch sein, das Kind ist es nicht

Wenn der Bruder das wehrlose Baby haut oder die kleine Schwester die Große mit sattem Grinsen bis zur Weißglut reizt, wird uns das als Eltern entsetzen, maßlos ärgern und fast verzweifeln lassen. Und schnell liegt uns ein „Wie kannst du nur so gemein/böse/hinterhältig/unvernünftig … sein!“ auf der Zunge. Dann bitte schnell runterschlucken! Denn kritisieren sollten wir immer nur das Verhalten unseres Kindes, nicht aber den Menschen selbst. Ein Kind, das schlägt oder drangsaliert, ist nicht böse oder hinterhältig. Oft ist es selbst in Not, hat Stress oder Sorgen, aus denen es gerade keinen anderen Ausweg weiß. Es ist an uns, diesem kleinen Menschen Strategien an die Hand zu geben, wie er auch mit negativen Emotionen umgehen lernt. Wir wollen schließlich kein Kind heranwachsen sehen, das seine Gefühle unterdrücken muss, um von uns geliebt zu werden.

Alle profitieren voneinander

Und wenn sich die Wogen dann geglättet haben – vielleicht nach einem gemeinsamen Versöhnungskuscheln auf dem Sofa –, ist wieder Raum für wertschätzendes und wohlwollendes Miteinander. Denn schließlich sind Geschwister etwas Wunderbares und ungeheuer Praktisches: Die Spielkameradin, der Spielkamerad wohnt mit im Haus und ist auch sonn- und feiertags verfügbar. Mit dem Bruder kann man prima Geheimnisse teilen und sich gegen die mächtigen Eltern verbünden. Die großen Geschwister macht es stolz, wenn sie mehr können und die Kleinen sich an ihnen orientieren, und diese schauen sich quasi nebenher wichtige Kompetenzen von den Älteren ab. Alle profitieren wechselseitig voneinander – und irgendwann setzt sich in den meisten Familien auch bei den Geschwistern die Erkenntnis durch: Wie gut, dass wir einander haben!

Streit vorbeugen:

Praxistipps für den Familienalltag

Die Kinder nicht vergleichen („Paul ist schon fertig mit Aufräumen – beeil dich doch mal!“), sonst wird die Geschwisterrivalität noch weiter angeheizt. Eher so: „Gestern warst du super-schnell mit Wegräumen und hattest danach noch viel freie Zeit, erinnerst du dich?“

  • Konfliktlösekompetenzen schon bei kleinen Kindern einüben; sie taugen als Handwerkszeug für den nächsten Streit:
  • Kompromisse vorschlagen: „Vielleicht könnt ihr tauschen. Was würde ihr/ihm gefallen?“ – „Frag doch, ob du es mal ausleihen darfst oder ihr euch abwechseln könnt.“
  • Gefühle und Bedürfnisse benennen und artikulieren lassen: „Sag Sophie, was dich geärgert hat.“ – „Erklär ihr, dass du das jetzt wieder zurückhaben willst.“
  • zu eigenen Lösungen anregen: „Ihr wollt beide mit dem Auto spielen, was können wir da jetzt machen?“

Für Größere: In einer ruhigen Minute im Familienrat gemeinsam Regeln für Konflikte festlegen, auf die man sich im Streit berufen kann: nicht körperlich wehtun, das Gegenüber ausreden lassen, keine Sachen der anderen kaputtmachen.

Exklusivzeit mit Mama oder Papa. Gönnen Sie jedem Kind jeden Tag eine verlässliche individuelle Privatzeit. So kann es sich Ihrer Liebe versichern und muss nicht ständig um Zuwendung kämpfen.

Vorbild sein. Bei Dissens in der Partnerschaft auf faire Konfliktkultur achten – so sehen Kinder, wie man richtig streitet und sich wieder versöhnt.

Streit-Spitzenzeiten ermitteln und den Druck rausnehmen. Müdigkeit, Hunger, Zeitstress sind Brandbeschleuniger – vielleicht lassen sich diese kritischen Stunden vorausschauend entzerren.

Geschwister aufs neue Baby vorbereiten

Ein Baby ist unterwegs. Wie können Eltern von Anfang an eine solide Basis für eine gute Geschwisterbeziehung legen? Das haben wir Anna-Katharina Klein gefragt; die Diplom-Soziologin ist im Familienzentrum Darmstadt verantwortlich für den Fachbereich 1 der Familienbildung, „Rund um die Geburt“.

Interview:

1. Was bedeutet die Geburt eines Babys für das größere Geschwisterkind?

Wenn sich ein Baby ankündigt, muss sich die gesamte Familie auf die bevorstehende Veränderung durch ein neues Familienmitglied einstellen und neu finden. Aus der Perspektive des großen Geschwisters bedeutet die Geburt eines weiteren Babys eine große Veränderung. Wir erwarten häufig, dass hier nur Vorfreude im Spiel ist, aber auch andere Gefühle wie Eifersucht spielen eine Rolle.

Schon in der Schwangerschaft werden die Veränderungen für das Kind deutlich: Es werden Anschaffungen getätigt, die Mutter kann vielleicht den oder die Große nicht mehr tragen, die Eltern sind ausgelastet, angespannt – all das nimmt das Kind wahr, das bisher ungeteilte Zuwendung gewohnt war. Der große Tag, die Geburt des Babys, kann beim Geschwisterkind auch Sorgen und Ängste auslösen. Hier hilft es, sich in die Perspektive des Kindes hineinzuversetzen.

2. Wie können Eltern mit dieser nachgeburtlichen Geschwisterkrise umgehen?

Das Wichtigste ist, die Gefühle des großen Geschwisters ernst zu nehmen und sie zu benennen. Eltern sollten sein Verhalten wahrnehmen und hinterfragen, welche Bedürfnisse zum Beispiel hinter aufbrausendem Verhalten oder gar Aggressionen gegen das Baby stehen. So merkt das große Kind: Ich werde gesehen, ich bin meinen Eltern immer noch wichtig. Dazu können kleine Rituale beitragen, die sich schon in der Schwangerschaft etablieren lassen: jeden Nachmittag mit Mama Obst knabbern und Bilderbuch anschauen – das klappt auch im Wochenbett und signalisiert, dass trotz aller Veränderungen manches gleich bleibt. Kontinuität im Familienalltag – also auch weiterhin in die Kita gehen – sorgt für Sicherheit und Stabilität. Wenn das große Kind in die Pflegeaktivitäten rund ums Baby einbezogen wird, beim Wickeln oder Cremen assistieren darf, hilft ihm das, seine neue Rolle als Geschwister zu finden. Und schließlich ist es sinnvoll, wenn die Eltern schon in der Schwangerschaft Entlastungen für die Phase nach der Geburt planen: Wie können wir unser Netzwerk ausbauen, wer kann mal mit dem großen Bruder oder der großen Schwester Zeit verbringen?

3. Welche Angebote finden Familien, bei denen das zweite Kind unterwegs ist, bei Ihnen im Familienzentrum?

Für Eltern gibt es zum einen den kompakten Geburtsvorbereitungskurs am Wochenende – explizit für Eltern, die ein weiteres Kind erwarten. Bei diesem Kurs ist auch Kinderbetreuung für das oder die großen Geschwister möglich. Ein weiterer Kurs – „Unsere Familie wächst – Geschwistervorbereitung“ – richtet sich an Eltern und Kinder: Kinder ab etwa zwei Jahren werden spielerisch an die Veränderungen mit dem neuen Baby herangeführt; die Eltern erfahren im Nebenraum, wie sie die Entwicklung einer positiven Geschwisterbeziehung unterstützen können. Darüber hinaus ist das Familienzentrum Ansprechpartner auch bei individuellen Fragen und Problemen.

Kontakt

Für Eltern von Babys oder Kleinkindern gibt es die Möglichkeit der Beratung im Bereich der Familienbildung (Anmeldung unter Tel. 0 61 51 / 13 30 30).

Familien mit älteren Kindern wenden sich gerne an den Bereich Erziehungsberatung (Tel. 0 61 51 / 3 50 60).