Waltraud Langer ist 70 Jahre alt und seit sechs Jahren in Rente. Nachdem sie ihr ganzes Berufsleben im sozialen Bereich tätig war, ist für sie nicht einfach Schluss mit ihrem gesellschaftlichen Einsatz. Heute sie ist als Notfallseelsorgerin ehrenamtlich tätig. „Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und soziales Engagement sind für mich wichtige Werte einer Gesellschaft“, begründet Waltraud Langer ihren unermüdlichen Einsatz für die Menschen. Werte, die sie bereits bei ihrer Arbeit für die Stadt Darmstadt lebte: Zuletzt war sie 30 Jahre im Jugendamt tätig.
„Die Welt ist für die Menschen nicht mehr so wie sie war“
Die Notfallseelsorge ist bei schweren Unfällen oder der Überbringung von Todesmeldungen gefordert und rund um die Uhr erreichbar. Als viertes Glied der Rettungskette ist sie neben Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr vor allem für die emotionale Unterstützung der Angehörigen zuständig. Während der Ausbildung fährt man bei Einsätzen mit, um sich einen realistischen Einblick vor Ort zu sichern. Die Aufgaben am Einsatzort sind in der Rettungskette klar verteilt: Während Polizei und Rettungsdienst Beweise aufnehmen und für die körperliche Sicherheit der Anwesenden sorgen, kümmern sich die Notfallseelsorger um die psychische Stabilisierung der Menschen; sie trösten oder sind einfach nur da.
Wenn die Alarmierung der Leitstelle kommt, liegen Waltraud Langers Jacke und ihr Notfallrucksack bereits parat, nur wenig ist vorab bekannt. „Auf dem Weg zum Einsatz bitte ich im Gebet, dass ich die richtigen Worte finde“, erzählt sie. Der erste Schritt am Einsatzort sei immer der Schwerste, da noch nicht klar sei, was sie erwartet. „Die Welt ist für die Menschen nicht mehr so wie sie war“, weiß sie. Manchmal sitzt man einfach nur gemeinsam da und schweigt. So erzählt sie von einem Einsatz, bei dem die Frau des Opfers wortlos Geschirr spülte, Waltraud Langer selbst gesellte sich hinzu und trocknete es ebenso wortlos ab. Ihre Erlebnisse bereichern und berühren sie tief. „Der Tod gehört zum Leben dazu, ja. Aber die Menschen umgibt und begleitet so viel Liebe“, resümiert sie. Sie ist den Menschen nah und versteht: „Schmerz findet manchmal keine Worte“. Angenommen wird das Angebot der Notfallseelsorge gut, ermöglicht wird es durch die evangelische und die katholische Kirche, insbesondere das Bistum Mainz. Die Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer sind dankbar, nicht allein mit ihren Gedanken und Gefühlen sein zu müssen.
Halt für Angehörige und Notfallseelsorger
Zu Waltraud Langers Ausrüstung gehört ein Rucksack, der mit allem gefüllt ist, was Trost und Halt gibt. Für Kinder bietet er neben einem Teddybären auch Spiele und Gummibärchen, außerdem haben die Seelsorger Gebetbücher, Kerzen, Engelskarten, Traubenzucker und sogar einen kleinen Altar samt Kerze im Gepäck. Wer auf den Schock eher eine Zigarette braucht, kann auch die haben. Waltraud Langer hingegen geben feste Rituale nach dem Einsatz Halt. Sie zieht die Erlebnisse mit ihrer Jacke vor der Tür aus und bedankt sich dafür, dass sie am Leben ist. War der Einsatz besonders schlimm, duscht sie.
Die Notfallseelsorge ist nur in Akutsituationen vor Ort, die Mitarbeiter gehen jedoch nie, ohne Informationen über weitere Anlaufstellen zu hinterlassen. „Wir zeigen Wege auf, wo es Unterstützung gibt“, erklärt Waltraud Langer. Einen zweiten Kontakt zu den Angehörigen gibt es in der Regel nicht. Schade, wie sie findet, manchmal wüsste sie gerne, wie es den Menschen ergangen ist. Es versteht sich von selbst, dass auch die Mitarbeiter der Notfallseelsorge Gesprächsbedarf haben. Monatliche Supervisionen gehören genauso dazu wie regelmäßige Einsatznachbesprechungen, im Akutfall stehen zwei Pfarrer für Gespräche zur Verfügung.
Dem Leid zum Trotz sieht Waltraud Langer auch die schönen Aspekte und Momente ihrer Tätigkeit. Sie ist glücklich, wenn sie das Gefühl hat, geholfen zu haben, wenn die Menschen am Einsatzort stabil sind und einen schönen Abschied von ihren Angehörigen hatten.
„Das Ehrenamt trägt die Gesellschaft“
Waltraud Langer ist eine engagierte Frau: Sie ist in der Pfarrgemeinde aktiv, unterstützte jahrzehntelang die Opferhilfe Südhessen und begleitete als Hospizbegleiterin sterbende Menschen. Der Corona-Lockdown im Frühling 2020 war auch bei der Notfallseelsorge Darmstadt-Dieburg spürbar. Einige Mitarbeiter, auch Waltraud Langer, übernahmen aufgrund des möglichen Ansteckungsrisikos und der potenziellen Folgen für Risikopatienten keine Dienste mehr. Doch schon bald nahm die 70 Jahre alte Notfallseelsorgerin ihre Tätigkeit wieder auf, weil sie sich bei dieser wichtigen Arbeit nicht einschränken lassen wollte. „Wie soll eine Gesellschaft ohne Ehrenamt funktionieren?“, fragt sie, wohl eher rhetorisch. Einen Einsatzeinbruch gab es auch zu dieser Zeit nicht.
„Kinderseelen sind zerbrechlich“
Besonders belastend ist für sie, wenn Kinder betroffen sind. „Kinderseelen sind zerbrechlich. Es ist schwer ihnen verständlich zu machen, was passiert ist“, sagt sie. Hier ist es wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und bei einer Überforderung ehrlich zu sich selbst zu sein, um bei Bedarf sofort bei der Leitstelle nach Unterstützung oder Ablösung zu fragen. Psychische Stabilität ist wichtig, um Schmerz und Leid aushalten zu können. Für Waltraud Langer kommt es auf die richtige innere Haltung und eine gute Balance zwischen Empathie und Distanz an. Ihre Lebenserfahrung hilft dabei.
Die Devise der Notfallseelsorge lautet: „Die Schwächsten immer zuerst“. Nach diesem Leitsatz wird zuallererst auf die Kleinsten geachtet. Waltraud Langer hat einen guten Zugang zu Kindern. Sie bespricht mit den Kindern, was auf das Grab soll oder zündet mit ihnen eine Kerze an, um Wünsche für das verstorbene Elternteil zu senden.
Auch wenn Kinder meist sehr zugänglich für ihr Angebot sind, möchten manche zuerst in Ruhe gelassen werden. „Das Schweigen auszuhalten ist schwerer als zu reden“, sagt Waltraud Langer. „Es kommt vor, dass ein Kind in eine Decke eingewickelt dasitzt und für sich sein möchte. Ich bin dann einfach da und warte, dass es von alleine zu mir kommt.“ Nach schweren Unfällen bietet die Notfallseelsorge ebenfalls Unterstützung, damit das hinterbliebene Elternteil nicht alle Herausforderungen und Aufgaben alleine bewältigen muss.
„Trauer ist keine Krankheit, sie braucht Raum und Zeit“
Kinder haben ihr ganz individuelles Trauerverhalten. Manchmal sitzen sie in einem Moment traurig auf der Erde, im nächsten Moment springen sie auf und spielen. Überdies spielt das Alter im Trauerprozess eine Rolle. Während kleinere Kinder emotionaler auf die veränderten Lebensumstände reagieren, lernen Kinder mit zunehmendem Alter die Kompetenzen für eine rationalere Einschätzung der Situation. „Es gibt für Trauer kein Rezept“, weiß Waltraud Langer. Jeder Mensch durchläuft verschiedene Phasen, die in Leugnung, Aggression, Resignation und Loslassen eingeteilt werden können.
Oft sind Eltern unsicher, wie sie mit der Trauer ihrer Kinder umgehen sollen. Braucht ein Kind nach einem schmerzhaften Verlust therapeutische Begleitung? Waltraud Langer verneint das. Sie findet, dass Kinder zunächst keine Psychotherapie, sondern vor allem einen sicheren Rahmen für ihre Trauer brauchen. „Trauer ist keine Krankheit, sie braucht Raum und Zeit“, beruhigt sie. Erst, wenn ein Kind sich auffällig verhält oder im Wesen verändert, empfiehlt sie, professionelle Unterstützung hinzuzuziehen.
Nichts ist selbstverständlich
Waltraud Langer schöpft viel Kraft aus ihrer Familie. Ihre Einsätze als Notfallseelsorgerin haben sie demütig werden lassen. „Man wird dankbar für das, was man hat. Man besinnt sich mehr darauf, dass nichts im Leben selbstverständlich ist“, erzählt sie.
Sie möchte gesund bleiben und die Zeit mit ihren Kindern und Enkelkindern genießen. Auch die Kleinsten wissen von ihrem ehrenamtlichen Engagement. Eigentlich wollte sie mit 70 aufhören. Doch da sie sich fit fühlt, entscheidet sie nun jährlich neu über ihren Einsatz für die Notfallseelsorge. Für die Zukunft der Notfallseelsorge wünscht sich Waltraud Langer vermehrt jüngere Mitstreiter. Dabei sind Lebenserfahrung und Stabilität dennoch unabdingbar. Darüber hinaus hofft sie, dass das wertvolle Angebot bekannter und mehr zum Selbstverständnis wird. „Bei der Fernsehserie Tatort sind so gut wie nie Notfallseelsorger zu sehen, das ist schade“, so ihr Eindruck von medialer Präsenz einer so wichtigen Funktion.
Infos unter www.nfs-suedhessen.de
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