Ein Beitrag von May-Britt Winkler

Alle, wirklich alle Menschen sind ganz schön. Manche zwar ganz schön eingebildet, ganz schön naiv oder auch mal ganz schön blöd, aber manche eben auch ganz schön hübsch. Optisch schön möchte fast jeder sein. Egal ob Frau oder Mann, Kind oder Greis, kaum einer will nicht etwas hermachen. Es wird gestylt, gegelt, geschminkt und optimiert. Die Pubertät war stets die Phase, in der Attraktivität an Bedeutung gewann, aber das Alter hat sich verschoben. Inzwischen blockieren auch 8-jährige den Badezimmerspiegel, weil sie sich cremen, Wimpern tuschen oder Posen für das nächste Selfie einstudieren. In Großstädten lassen sich bereits 5-jährige Strähnchen machen oder die Nägel bei der Maniküre zum Glitzern bringen. Armani und Chloé verkaufen Kinderkollektionen zu horrenden Preisen, und daheim kommt das Prinzessinnen- oder Piraten-Shampoo zum Einsatz, allen Warnungen von Hautärzten wegen des hohen allergenen Potentials zum Trotz.

„Das ist aber eben die Jugendkultur“, meint die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christine Trautmann aus Eberstadt. „Die Kinder sind heute deutlich früher pubertär, und so entsteht auch in den Peergroups deutlich früher ein starker sozialer Druck.“ Während die Generation der Eltern oft mit 12 noch im Garten schaukelte oder mit Freundinnen am Festnetztelefon von Ponys schwärmte und immer noch in den Klamotten herumlief, die im Ausverkauf erstanden wurden, steht die 12-jährige von heute ganz woanders. Da wird Make-up aufgetragen, Stars werden nachgeahmt, und die Mode spielt eine wichtige Rolle. Es gibt Tobsuchtsanfälle, wenn die Frisur nicht sitzt („Ich gehe so auf keinen Fall in die Schule“) oder Motzattacken, weil das Lieblingsshirt noch nicht gewaschen wurde.

Doch in dieser Fixierung auf Oberflächlichkeiten liegt eine große Gefahr. Christine Trautmann hat viele Patientinnen – es sind tatsächlich überwiegend Mädchen – die mit ihrem Aussehen hadern: Bildschön, aber ohne jedes Selbstwertgefühl, die trotz ihres perfekten Aussehens das Gefühl haben, sie müssten noch schöner sein, noch ein paar Kilos abnehmen, noch eine Schippe drauflegen. Wer an diesem mangelnden Selbstbewusstsein die Schuld trägt, ist nicht ganz eindeutig auszumachen, aber ganz sicher gehören Werbung, Fernsehen und Social Media dazu.

„Es beginnt schon in den Zeichentrickserien, in denen die weiblichen Figuren hypersexualisiert werden, also eine große Oberweite und eine schmale Taille haben“, beklagt Ilona Einwohlt vom Institut für Medienpädagogik und Kommunikation Hessen e.V. (MuK). „Wir haben inzwischen sogar eine Biene Maja, die dünn geworden ist.“ Schlank sein als Ideal. Mütter und auch manche Väter leben es vor, dass Diäten durchgehalten und Körper perfektioniert werden müssen. Influencer knüpfen an.

Gefilterte Schönheiten

33 Prozent der 8- bis 9-Jährigen haben in Deutschland ein eigenes Smartphone, bei den 10- bis 11-Jährigen sind es bereits 75 Prozent. Ein über 12-jähriger ohne Smartphone ist eine Rarität. Instagram und TikTok gehören zu den am häufigsten installierten Apps. Und darauf sind nicht nur lustige Katzenvideos zu sehen, sondern vor allem selbstoptimierte Bodys und gefilterte Schönheiten.
Während in Ländern wie Norwegen inzwischen gekennzeichnet sein muss, wenn Bildmaterial bearbeitet wurde – übrigens ist fast jedes Foto in der Werbung bearbeitet –, fallen hierzulande noch jede Menge Kinder und Jugendliche auf die Makellosigkeit ihrer Vorbilder herein. Manipulation ist bei Instagram und Co. an der Tagesordnung. Filter und Photoshop begradigen Nasen, retuschieren Pickel, polstern Lippen auf, vergrößern Augen oder verschlanken Oberschenkel. „Instagram und das Posten dieser perfekten Fotos hat in den vergangenen Jahren vermehrt bei Mädchen und Frauen zu Essstörungen geführt. Wobei es entsprechende Posen und Körperbilder für beide Geschlechter im Netz gibt. Auch Jungs haben oft ebenso Schönheitsdruck wie Mädchen und müssen mit Geschlechterstereotypen kämpfen. Der Unterschied ist, dass wir den Jungskörper als Subjekt wahrnehmen, den Mädchenkörper als Objekt, über den alle, die Gesellschaft und insbesondere Männer, bestimmen dürfen. Entsprechend wird unterschiedlich bewertet, wie sich in den Kommentaren zeigt“, erklärt Ilona Einwohlt.

Jungs und junge Männer bekommen ein falsches Bild vom weiblichen Geschlecht, aber auch vom eigenen. Nach wie vor gilt für Männer Coolness, Kernigkeit und auch eine gewisse Stärke als Ideal. Mädchen und Frauen dagegen sollen vor allem hübsch anzusehen sein. Während in manch afrikanischem oder asiatischem Land die Üppigkeit gefeiert wird, ist in westlichen Ländern das Schlanksein das Non-plus-Ultra. Und somit wird ein Anspruch an Weiblichkeit gestellt, den eine normale Frau oder ein Mädchen fast gar nicht erfüllen kann. Es sei denn, sie hungert sich herunter, schminkt sich bis zur Fassade oder lässt sich im schlimmsten Fall sogar operieren, wie es in den USA nicht ungewöhnlich ist. Mehrere Zehntausend Kinder und Jugendliche lassen sich dort jährlich die Nase richten oder das Fett absaugen.

Selbstbewusste Kinder

„Kinder, die selbstbewusst sind und dieses Grundgefühl haben, gut zu sein, so wie sie sind, die haben meist keine Probleme, wenn sie auf Social Media attraktive Menschen sehen. Die lassen dadurch nicht so sehr verunsichern
oder gar aus der Bahn werfen“, erklärt Christine Trautmann. „Wenn aber schon Ansätze da sind, sich zu dick oder zu hässlich zu fühlen, dann wird verglichen.“

Besonders dramatische Folgen kann das haben, wenn Kinder an einer Essstörung wie Magersucht leiden. Als schwere psychische Erkrankung gilt Anorexie, doch können vor allem die physischen Auswirkungen des Hungerns lebensgefährlich werden. 15 Prozent der Betroffenen sterben an der Krankheit. „Plötzlicher Herztod“ lautet meist die Diagnose.

Nierenversagen, Osteoporose, Blutarmut und Unfruchtbarkeit sind weitere Begleiterscheinungen, ein Suizid nicht selten. Anorexie tritt vor allem in Ländern der ersten und zweiten Welt auf. Wer aufgrund von Lebensmittelknappheit von Haus aus hungern muss, der ist froh über jeden Bissen und jedes Kilo mehr. Doch Mädchen mit Magersucht verabscheuen jegliches Gramm Fett. Sie erheben sich über die, die nicht klapperdünn sind, denn ihrer Meinung nach haben diese sich nicht im Griff. Sie selbst kasteien sich, entsprechen aber dennoch niemals ihrem Ideal, so Therapeutin Trautmann: „Diese Mädchen haben eine Körperschemastörung. Sie schauen in den Spiegel und finden sich dick. Sie sehen ein anderes Bild von sich als das, was wirklich im Spiegel zu sehen ist.“

Im Netz wird diese Unsicherheit noch befeuert. Sogenannte Mager-Coaches spornen zum Kalorienzählen und Hungern an. Selbst wenn die Taille hinter einem Din A4-Blatt verschwindet, ist man noch zu dick. Sie muss schon von zwei Händen umschlossen werden können. Wer nicht mithalten kann oder will, gilt als fett und bekommt negative Kommentare. Die Betroffenen werden immer jünger. Bereits 8-jährige beginnen Diäten und landen in einem Teufelskreislauf, denn einmal in der Sucht angekommen, wird etwa ein Drittel der Patienten – trotz Therapie – wieder rückfällig, und die Essstörung bestimmt auf ewig Leben und Lebensqualität.

Doch nicht nur eine Essstörung droht durch falsche Vorbilder. Es reicht schon ein übertriebener Schönheitswahn des Nachwuchses, um die Eltern wahnsinnig zu machen. Solange nur das Bad blockiert ist, weil das Kind sich aufhübscht, ist es schlicht nervig. Wird das In-den-Spiegel-Schauen allerdings zur Manie, ist auch das behandlungsbedürftig. Dysmorphophobie nennt sich diese Störung, und rund eine Million Menschen sollen in Deutschland darunter leiden. Sie nehmen ihr Spiegelbild – wie meist auch Magersüchtige – verzerrt wahr, sehen also tatsächlich etwas anderes und konzentrieren sich auf alles, was ihrer Meinung nach nicht schön genug ist: die Augenbrauen, die Nase oder eine Hautunreinheit. Das kann zum Zwang werden, wird teilweise von Selbstverletzungen begleitet und ist oft ohne Therapie nicht zu beseitigen.

Wichtig ist deshalb, rät Christine Trautmann, von klein auf das Selbstwertgefühl zu stärken: „Normal ist ja, dass man sein Kind anschaut und findet: Das ist das tollste Kind der Welt. Da entwickelt sich schon ganz früh ein positives Selbstbild. Ich bin gut so wie ich bin. Wenn aber ein Elternteil das Kind kritisch beäugt, es zu dick findet oder Makel entdeckt, dann verinnerlicht das ein Kind. Das muss gar nicht immer böse gemeint sein, kann auch aus einer Sorge heraus gesagt werden. Jedes Elternteil will ja das Beste für sein Kind tun. Aber man kann es bei allem übertreiben.“

Hat das Kind also tatsächlich etwas zu viel auf den Rippen, dann könnte man erklären, wie gesund richtige Ernährung ist und gemeinsam kochen. Eltern sind zumindest bis zur Pubertät auch immer Vorbild und sollten es sein.

Tipps für Eltern

um das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken und es so vor Gefahren der Social Media-Welt zu schützen:

#1: Vorbild sein: Jeder Körper ist einzigartig, und ein positiver Umgang mit Körperlichkeit ist der beste Schutz. Außerdem ist nicht das Aussehen das, was eine Person ausmacht, sondern, ob sie ein guter Freund ist, großartige Eigenschaften oder besondere Begabungen hat.

#2: Anerkennung schenken: Lob beflügelt, und selbst Lob über das Aussehen schadet nicht. Jeder hört doch gern mal, dass er hübsch aussieht. Aber das Aussehen sollte nicht im Mittelpunkt stehen, sondern liebenswerte Eigenschaften, Talente oder auch mal nur Bemühungen.

#3: Medien kritisch betrachten: Kinder und Jugendliche sollten erkennen können, bei welchen Bildern Filter verwendet werden, und wie Licht, Pose und Bildbearbeitung ein Foto beeinflussen können. Ilona Einwohlt von MuK empfiehlt Aktivistinnen wie Danae Mercer, Celeste Barber oder Melodie Michelberger, die zeigen, wie Posen der Influencer*innen entstehen.

#4: Gespräche führen: eine wertschätzende Gesprächs- und Streitkultur innerhalb der Familie sorgt dafür, dass Kinder sich trauen, über ihre Gefühle zu sprechen. Gemeinsam kann man Strategien finden und Kinder stärken. Außerdem fördert Toleranz innerhalb der Familie das Mitgefühl, so dass auch die Kinder nicht zu Mobbern werden.

#5: Klare Regeln im Umgang mit dem Internet: Eltern sollten wissen, welche Internetseiten und welche Apps ihr Kind besucht, und sie sensibilisieren für Daten und Fotos im Netz. Ein Mediennutzungsvertrag (www.mediennutzungsvertrag.de) kann helfen.

Weitere Tipps zum Umgang mit den digitalen Medien unter www.muk-hessen.de

Eine Mutter, die stets selbst mit ihrem Aussehen hadert, vermittelt unbewusst falsche Signale. Ein Vater, der seine Tochter nur hübsch findet, wenn sie ein nettes Kleidchen anzieht anstatt eine schlampige Jogginghose, ebenfalls. Keine Frage: Elternschaft ist eine riesige Falle und man kann so viel – ohne es zu wollen – falsch machen. Aber Liebe zeigen und Vertrauen geben, das kann man immer, findet Ilona Einwohlt:
„Außerdem helfen Sport und Hobbys, das Selbstwertgefühl aufzubauen. Kinder müssen sich und ihre Kraft körperlich spüren können. Beispielsweise sind Kampfsportarten ideal, weil es ein ganzheitliches Training und die eigene Stärke sprichwörtlich zu spüren ist. Übrigens tut das insbesondere auch Jungen gut, denn hier herrscht ein hoher Ehrenkodex und fair zu kämpfen, steht ganz oben.“
Vorbild sein

Ein starkes Selbstbewusstsein ist die Voraussetzung, sich im Leben durchzusetzen, auch wenn man nicht der optischen Norm entspricht und vielleicht sogar Mobbings ausgesetzt ist. Leider werden Kinder mit dicken Nasen, krummen Beinen, großen Ohren oder vielen Kilos oft Opfer von Mobbing. Manchmal reicht auch schon die falsche Kleidermarke. Da ist es an den Eltern zu erziehen und Vorbild zu sein: Mitgefühl zeigen und keine Vorurteile vorleben, so Christine Trautmann: „Wenn man zuhause sehr wertschätzend ist und immer wieder die eigene Perspektive benennt, ist es wahrscheinlich, dass ein Kind das so übernimmt. Leider erlebe ich sehr oft, dass sich die Schule nicht ausreichend einsetzt, wenn Kinder geärgert werden. Das müsste viel mehr thematisiert werden, denn auch die ärgernden Kinder sind ja oft keine bösen Kinder. Die merken manchmal gar nicht, was sie da anrichten, finden es vielleicht witzig, aber haben gar nicht die Perspektivfähigkeit zu sehen, was sie dem anderen – vielleicht sogar langfristig – antun.“

Egal ob Mobber oder Opfer, ob Schönheit oder eher Durchschnitt, für jeden gilt also, das eigene Selbstwertgefühl zu trainieren. Dazu rät Trautmann: „Das entsteht oft durch Selbstwirksamkeit. Es ist wichtig, einem Kind etwas zuzutrauen, an es zu glauben. Sicher kann man scheitern, aber auch daraus lernt man ja.“ Dann heißt es aufstehen und weiterlaufen. Entweder man gewinnt oder man lernt. Scheitern darf nicht überbewertet werden, und kleine Erfolge können riesig sein. Und Eltern dürfen ruhig vermitteln: Du bist das Tollste, was ich jemals geschaffen habe. Das bedeutet aber nicht, dass man die eigenen Kinder nicht zwischendurch auch mal doof finden darf. Kritik muss erlaubt sein, aber in Maßen und dem Alter entsprechend:
Wenn eine 9-jährige ohne rotbemalte Lippen das Haus nicht mehr verlässt, muss man das definitiv ansprechen. Ist die 16-jährige zu stark geschminkt, dann sollten Eltern das respektieren. Außerdem ist das Wie wichtig. Zu sagen: „Du siehst aus wie eine Schlampe“ fördert niemandes Selbstwert. Besser wäre es, in die Diskussion zu kommen, zu sagen, dass man vielleicht glaubt, dass bei den konservativen Lehrern der katholischen Schule die Hotpants eher weniger gut ankommen.

So manches müsse auch mal unbequemerweise verboten werden, findet Trautmann: „Problematisch ist sicher eine zu frühe Erlaubnis der Eltern, sich im Internet zu zeigen, beispielsweise bei TikTok, denn die Kinder setzen sich da einer Bewertung aus. Wenn man dann sehr viel negative Kritik bekommt, dann kann das den Selbstwert enorm stören.“ Ebenso kann zu viel Lob auch süchtig machen. Reißt das Lob irgendwann ab, fällt so mancher in ein tiefes Loch. Nicht zuletzt gibt es üble Kommentare in den sozialen Medien, die nicht einmal Erwachsene gut verarbeiten können. Kinder sollte man dem nicht aussetzen. Eltern müssen hinschauen und klare Regeln festlegen, selbst gegen den sicher oft heftigen Protest der Kinder.

Und schließlich gibt es ja nicht nur die äußere Schönheit, sondern auch die innere. Natürlich sind manche Menschen objektiv betrachtet attraktiver als andere, aber hässlich kann nur sein, wer einen schlechten Charakter hat. Zugegeben können schreckliche Menschen ein hübsches Gesicht haben, aber das Gesamtbild wird stets getrübt. Ein gesellschaftliches Problem also, dass Äußerlichkeiten so hoch bewertet werden, dass hübsche Menschen erwiesenermaßen sogar besser verdienen und seltener arbeitslos werden. Ein Stück Verantwortung tragen wir also alle.

Optik ist der erste Eindruck. Nicht zuletzt deshalb lohnt es sich, zwei Mal hinzuschauen und hinter die Fassade zu blicken. Und die Schönheit, die man da manchmal entdeckt, ist nicht einmal vergänglich.

Adressen

Christine Trautmann
Kinder- und Jugendpsychotherapeutin
Telefon: 0171-23 22 054
Praxis in Darmstadt Eberstadt & Bensheim

MuK – Institut für Medienpädagogik
und Kommunikation Hessen
Forstmeisterstraße 11
64285 Darmstadt
Telefon: 06151-360 56 87
www.muk-hessen.de