Doch der Reihe nach: ich drehe die Uhr um einige Monate zurück und wir befinden uns in Surfers Paradise an der Gold Coast in Australien. Wir sind bereits vier von zwölf Monaten auf Weltreise durch (Weiß-) Russland, die Mongolei und China und suchen nun die perfekte Welle und lernen surfen, besuchen den westlichsten Punkt Australiens, Baron Bay, mit dem lichtstärksten Leuchtturm der südlichen Hemisphäre und jagen nachts Krebse an den unendlich weiten, strahlend weißen Sandstränden. Amalia darf die Schwerelosigkeit ausprobieren, Indoor Skydiving nennt sich das Vergnügen.

Ein fünfstündiger Flug bringt uns von Brisbane in den Norden Australiens nach Darwin. Auch hier nutzen wir Couchsurfing und lernen einen Piloten kennen, der Menschen im Outback mit Medikamenten versorgt. Zuvor arbeitete er auf Australiens größter Rinderfarm, Anna‘s Creek (sie ist größer als Hessen!) und trieb mit dem Flugzeug die Herden zusammen. Darwin ist eine Arbeiterstadt, hier wird Geld generiert, nicht investiert. Viele ansässige, indigene Australier wirken entwurzelt, nicht für das Stadtleben geschaffen, verloren und frustriert. Schilder warnen vor Gewalt und exzessivem Alkoholkonsum. Das Vorkommen von Salzwasserkrokodilen schirmt die Stadt von der wundervollen Küstennatur ab. In wenigen Tagen fühle auch ich mich gefangen: Es ist unendlich heiß, die Temperatur fällt nachts nicht unter 38 °C, wir fühlen uns träge und flüchten ins abgedunkelte Hausinnere. Zudem herrscht Sturmsaison, die unfreundlichste der sechs Jahreszeiten, die die indigenen Australier Darwin zuschreiben.

So freuen wir uns sehr auf unseren zwölftägigen Trip durch das Herz Australiens von Darwin nach Adelaide. Durch einen sogenannten Relocation-Deal mieten wir kostenlos einen Geländewagen mit Dachzelt und kompletter Campingausrüstung. Relocation-Deals werden von Auto-/Wohnmobilvermietungen in Australien angeboten, um Fahrzeuge, die häufig nur in eine Richtung gefahren werden, wieder zu ihrem Ursprungspunkt zurückzubringen: eine hervorragende Möglichkeit, Australien günstig zu bereisen!

Wir bewundern die wilde Natur im Kakadu Nationalpark, die wunderschönen, tausende Jahre alten Höhlenmalereien, die Devil‘s Marbels (riesengroße, wie aus einem Würfelbecher hingegossene runde Steine) und natürlich Alice Springs, den Uluru und die Kata Tjutas.

Wir bewundern die wilde Natur im Kakadu Nationalpark, die wunderschönen, tausende Jahre alten Höhlenmalereien, die Devil‘s Marbels (riesengroße, wie aus einem Würfelbecher hingegossene runde Steine) und natürlich Alice Springs, den Uluru und die Kata Tjutas.
In der Opalminenstadt Coober Pedy erfahren wir das raue Klima einer von Männer dominierten Gemeinschaft. Mehr als die Hälfte aller Einwohner lebt unterirdisch und so gönnen auch wir uns eine Nacht in einer der in Stein gefrästen, natürlich kühlen Höhlenwohnungen. Gen Osten holpern wir maximal 60 km/h schnell über den Oodnadatta-Offroad-Track zu dem größten Salzsee Australiens, Lake Eyre, der sich vertrocknet und mit dicken, weißen Salzkrusten präsentiert. Die Straße wird gesäumt von Auto- und Känguru-Skeletten, Myriaden von Fliegen umsurren unsere Körper. Doch zwischen Port Augusta und Adelaide erwartet uns eine herrliche, den Gezeiten ausgesetzte Küstenlinie. Es ist gerade Fangzeit für die blaue Krebse, sodass Amalia die meiste Zeit mit lokalen Fischern verbringt.

In Melbourne leben wir einen Monat bei langjährigen Freunden und nutzen die Zeit und backen, kochen, basteln, chillen und fahren Fahrrad. Den Jahreswechsel verbringen wir in Musikerkreisen auf einem kleinen, aber feinen Konzert und Julian spielt spontan einige Nummern. Übrigens: dreht der Wind in Melbourne von Nord nach Süd, fällt die Temperatur innerhalb von 30 Minuten über 20 °C – ein gigantisches Naturereignis!

Doch es wird Zeit, den nächsten Abschnitt unserer Weltreise zu beginnen: Wir reisen nach Südostasien und fliegen nach Denpasar auf Bali. Dies ist die einzige hinduistische Insel des 17.000-Inselstaates Indonesien. Die Natur der Vulkaninsel ist überbordend, üppig grün und voller Leben: Es herrscht Regenzeit. Die Luft ist schwer vor Nässe, unheilschwanger kleben die Gewitterwolken am Himmel. Dennoch lassen wir uns die Laune nicht verderben, düsen bei 37 °C auf dem Roller durch das balinesische Hinterland und suchen Erfrischung in einem der zahlreichen, wunderschönen Wasserfälle. Wir haben uns in der Künstlerhauptstadt Ubud einquartiert, bewundern den traditionellen, auf Trancetanz zurückgehenden Kecaktanz, sehen unendlich weite Reisterrassen, Makkakenrudel und besuchen buddhistische Tempel, in deren Kraft und Heil spendenden Quellen Pilger aus ganz Indonesien baden. Wir bestaunen Babyschildkröten in einer Aufzucht- und Krankenstation der vom Aussterben bedrohten Meeresbewohner, nutzen Couchsurfing und fühlen uns in Westbali, bekannt für seine guten Surfspots, richtig wohl. Mit der Fähre überqueren wir den fünf Kilometer langen Seeweg nach Java.

Im Unterschied zu Bali ist Java ärmer, weniger touristisch, wesentlich größer und hat eine muslimische Bevölkerungsmehrheit. Endlich fahren wir wieder Zug: Sieben Stunden ruckeln wir von Banyuwangi nach Malang. Erneut lernen wir eine lokale Familie kennen und schätzen und erleben eine unglaublich intensive Zeit: Im Haus unserer Gastgeber findet morgens ein Kindergarten statt, Amalia geht mit der zehnjährigen Tochter des Hauses in die Schule, wir essen und kochen zusammen, bekommen die lokale Vegetation erklärt, probieren exotische Früchte, werden in traditionelle Hochzeitsgewänder gesteckt und bestaunt, herumgereicht und fotografiert wie Trophäen. Amalia fühlt sich frei, spielend auf den Straßen mit anderen Kindern. Wir leben ohne fließendes Wasser, duschen mit Eimern und schlafen in einem Zimmer ohne Fenster. Doch die Gastfreundschaft macht alles wett, bis, ja bis wir an unserem letzten Tag mit dem Roller in das nahegelegen Vulkangebirge fahren, um den aktiven Mount Bromo aus der Nähe zu bestaunen: Es regnet, ist kalt und der Motor versagt. Ein lieber Indonesier bringt uns Mädels zum nebelverhangenen Aussichtspunkt, von dem bekannten Vulkan ist nichts zu erkennen. Wir warten auf Julian, der unseren geplagten Roller mit nun leichterem Gewicht nach oben fahren soll. Doch wir warten vergebens. Stattdessen ertönen die Worte, bei denen sich mein Innerstes zusammenzieht und ich auf Autopilot schalte: „Madame, crash, husband crash!“

Nichts hatte mich auf den Anblick des blutüberströmten Julian vorbereitet. Amalia weint und schreit, ich werde ohnmächtig, komme wieder zu mir, nehme Amalia in die Arme, wir werden auf einen LKW geladen und ins nächste Dorfkrankenhaus gebracht. Dort wird Julian notdürftig versorgt, Zugänge können nicht gelegt, Schmerzmittel nicht gegeben, Röntgenaufnahmen nicht gemacht werden. So wird klar: Wir müssen in die Hauptstadt. Die Deutsche Botschaft hilft, Julian fehlen Zähne, Fleischwunden müssen genäht werden, der Kiefer schwillt an. Die Verletzungen konzentrieren sich auf den Kopf, der restliche Körper ist unverletzt, die Hände des Musikers heil. Das Vorderrad des Rollers war weggerutscht und Julian hat bei ca. 40 km/h mit dem Kiefer gebremst. Am nächsten Tag fliegen wir nach Jakarta, endlich gibt es eine Flüssigkeitsinfusion, Schmerzmittel, eine Tetanusimpfung, ein CT des Kopfes, Röntgenbilder, saubere Verbände und kompetente Ärzte: Der Unterkiefer ist mehrfach gebrochen und wird noch in der Nacht operiert, Julian bleibt im Krankenhaus. Amalia und ich überspringen das Schlafen und sind froh, Julian nach zweienhalbstündiger Operation in die Arme schließen zu dürfen. Nach dem Krankenhausaufenthalt erholt er sich bei uns im Hotel, wir kaufen einen Mixer und Julian darf sich den nächsten Monat von Püriertem ernähren. Amalia ist voller Eifer, püriert Ziegenkäsebrot, Popcorn und Schokolade. Doch wie und wohin unsere Reise nun weiter geht, werden die nächsten Tage zeigen, läuft unser Visum doch ab und sind sieben Zähne in Julians Mund abgebrochen, verschoben und eingedrückt und der Kiefer fest verdrahtet.

Vera Gramm

Die Autorin

Vera Gramm wird auch in der kommenden Ausgabe über ihre Erlebnisse berichten. Weitere Weltreisegeschichten gibt es unter

www.veragramm.com