Unsere Autorin Lisa Benericetti hat Gert Willumeit getroffen, der sehbehinderten und blinden Menschen zu mehr Mobilität verhilft.

Gert Willumeit ist Rehabilitationslehrer für blinde und sehbehinderte Schüler, und zwar mit Leib und Seele. Die Vision des gebürtigen Darmstädters: Eine barrierefreie Welt, in der sich blinde und sehbehinderte Menschen frei und selbstbestimmt bewegen und entfalten können. Mit seiner Arbeit trägt der 66 Jahre alte Darmstädter maßgeblich dazu bei, diese Vision zu erreichen.

Bevor Gert Willumeit die Weiterbildung zum Rehalehrer absolvierte, war er nach seinem Soziologie- und Philosophiestudium Betreuer für arbeitslose Menschen und anschließend für das Hessische Institut für Lehrerfortbildung tätig. Im Fokus seiner Tätigkeit lagen hierbei Gespräche mit Schülern, Eltern und Lehrern zum Thema AIDS-Aufklärung und Prävention. Nachdem seine Stelle nicht verlängert wurde, suchte Willumeit Anfang der 90er Jahre eine neue berufliche Herausforderung und wurde bei der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V (www.blista.de) fündig.

„Blindheit kann wie eine Fessel sein“

Essentieller Teil der Ausbildung ist eine Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung. Mit Augenbinde oder einer das Sehvermögen verschlechternden Brille erlebten Willumeit und seine Kollegen die Welt ähnlich wie ihre Schüler. Diese Selbsterfahrung beeindruckte Willumeit. „Blindheit kann wie eine Fessel sein“, sagt er, „es geht darum, diese Fessel zu öffnen und den Menschen ihre Autonomie zurück zu geben“. Und das funktioniert, wie er immer wieder erleben darf. Die Zeit seiner Ausbildung ist es auch, die Willumeit besonders prägte, da er als einziger keine Vorerfahrungen bei der Arbeit mit blinden Menschen hatte. „Mir wurde klar, dass ich noch mehr lernen und die Anwendung meines Handwerkszeugs üben muss. Erst nach zwei weiteren Jahren war ich zufrieden mit mir“, erinnert sich Willumeit. Sein eigener Anspruch an sich selbst ist, effektiver in den Methoden zu werden und stets offen für neue Strategien zu bleiben.

Nach seiner Ausbildung arbeitete Willumeit an der Carl-Strehl-Schule auf dem blistaCampus in Marburg. Plätze an der Internatsschule sind bei blinden und sehbehinderten Schülern begehrt, die Warteliste ist lang. Doch das Warten lohnt sich: Die Schüler sind glücklich, mit anderen Blinden in Kontakt zu sein und es gibt ein innovatives Internatskonzept. Das Besondere ist, dass die Schüler nicht auf dem Campus, sondern dezentral in Wohngruppen über das ganze Stadtgebiet verteilt untergebracht sind. „Das fördert soziale Kontakte und die Mobilität“, sagt Willumeit, der die Gewährleistung geben muss, dass seine Schüler am Straßenverkehr teilnehmen können und den Schulweg alleine bestreiten dürfen.

Willumeits Arbeit umfasst zwei Felder. In „Orientierung und Mobilität“ (O&M) unterstützt er die Schüler dabei, selbstständig mobil zu werden, beginnend mit der Orientierung im Klassenraum und Schulgebäude. Vor allem der Gang zur Toilette und die Erkennung von Treppen haben Priorität. Nach und nach wird der Radius dann erweitert. In „Lebenspraktische Fähigkeiten“ (LPF) geht es um Alltagsdinge wie die Benutzung von Besteck oder Aufräumen. Dabei stehen die individuellen Bedürfnisse der Schüler im Vordergrund. Willumeit weiß, wie wichtig es ist, bei Misserfolgen nicht angespannt und ungeduldig zu werden, sondern die negativen zu positiven Erfahrungen umzupolen. Mit viel Einfühlungsvermögen unterstützt er sie nach einer vermeintlichen Niederlage dabei, doch noch das gesetzte Ziel, etwa eine eigenständige Bahnfahrt von Marburg nach Darmstadt, zu erreichen.

Clevere Lösungsstrategien

Es passiert aber auch, dass die Sinnhaftigkeit der Übungen hinterfragt wird. Willumeit lacht: „Dem ein oder anderen erschließt sich der Sinn des Schuheputzens nicht, da sie ihre Schuhe ja sowieso nicht sehen können.“ Nicht förderlich für seinen Unterricht ist die Angst mancher Schüler vor der Eigenverantwortung ohne einen sehenden Helfer. In solchen Fällen ist Willumeits pädagogisches Know-how gefragt. Schritt für Schritt begleitet er seine Schützlinge, die stetige Wiederholung von Abläufen ist hier das Erfolgsgeheimnis. „Es ist eine spannende und tolle Arbeit“, schwärmt er und ergänzt: „Es ist wichtig, unvoreingenommen auf die Schüler einzugehen und erstmal zu schauen, was sie schon können“. Die individuellen Lösungsstrategien der blinden Menschen begeistern ihn. Oft seien die Strategien so clever, dass er sie übernimmt und in seiner Arbeit mit anderen Schülern verwendet.

Interessante und tragische Arbeit

Gert Willumeit übt mit seinem Schüler Max Görisch eine Pfanne auf ein Ceranfeld zu positionieren.

Ein stark beeinträchtigtes oder nicht mehr vorhandenes Sehvermögen von Späterblindeten wird als besonders einschneidend empfunden. Willumeit nennt hier Kriegsblinde aus Krisengebieten, Unfallopfer oder Menschen, die die Hiobsbotschaft erhalten haben, dass sie erblich bedingt ihre Sehkraft verlieren. „Hier ist die Schulgemeinschaft besonders wichtig. Die Schüler erleben, dass andere trotz ihrer Beeinträchtigung glücklich sind und werden von ihnen motiviert. Das stärkt ihre Persönlichkeit und Zuversicht für die Lebensperspektive.“ Die meisten seiner Schüler haben bereits Frühförderung erhalten und sind in integrativen Kindertagesstätten gewesen. Auf dem Land gebe es leider oft noch keine oder nur sehr wenig Förderung für blinde Kinder. Willumeit berichtet, dass die Kinder dann sehr unselbstständig sind, weil sie oft nur lernen, an der Hand oder der Wand zu gehen. „Das ist keine Orientierung“, betont er. Hier kann er mit seiner Arbeit ansetzen und die Schüler dabei unterstützen, ihr Körperbild sowie ihre Wahrnehmung zu schulen.

„Gemeinsamer Erfolg macht mich glücklich!“

Gert Willumeit übt mit seinem Schüler Max Görisch den Weg zur Bushaltestelle mithilfe des Langstocks zu finden.

Besonderen Spaß an seiner Arbeit macht es Willumeit, das Lernniveau seiner Schüler zu erkennen und mit ihnen gemeinsam zu steigern. Er betont, dass ein Erfolg immer ein gemeinsamer Erfolg ist und es macht ihn glücklich, etwas gemeinsam zu schaffen: „Das fühlt sich für mich an wie eine Bergbesteigung. Wir bewältigen gemeinsam Herausforderungen, schaffen es auf den Gipfel und können dann oben stehen und sagen: ‚Wir haben es geschafft!‘“ Vor allem die Steigerung von Orientierung und Mobilität ist eine elementare, positive Erfahrung für die Blinden, die nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Eltern entlastet. Eltern von blinden Kindern empfiehlt Willumeit, sich Unterstützung für ihrer Kinder zu holen. Oft seien Eltern zu vorsichtig und ängstlich. Mit Verboten, beispielsweise der Verwendung von Messer und Gabel oder einer Einschränkung der Mobilität, erschweren manche Eltern ihren Kindern den Erwerb notwendiger Fähigkeiten für ein selbstbestimmtes Leben. Hier können Fortbildungen für Angehörige Abhilfe schaffen. „Toleranz und Verständnis sind die Basis für Geduld und einen anderen Blick auf das Kind“, sagt Willumeit.

Damit Blinde erkennbar sind

Taktile und akustische Kontrolle ist zur Orientierung unbedingt notwendig, dabei spielt der Langstock eine wichtige Rolle. Als medizinisches Hilfsmittel unterstützt er die Sicherheit und Mobilität und hilft, Orientierung aufzubauen und zu unterstützen. Über den Sicherheitsaspekt hinaus hat der Langstock auch positiven Einfluss auf Sozialverhalten und Verständnis der Gesellschaft. Blinde und sehbehinderte Menschen werden für Passanten erkennbar. Dennoch kommt es zu Kollisionen mit Sehenden, hier ist es wichtig, in Kontakt zu gehen und das Gespräch zu suchen. „Und sich als Blinder, der einen Sehenden angerempelt hat, auch mal zu entschuldigen“, ergänzt Willumeit. Auch, wenn sich das gesellschaftliche Bewusstsein in den vergangenen 30 Jahren stark gewandelt hat und blinde Menschen immer präsenter und autonomer werden, sieht er hier noch viel Potential.

„Ich bin sehr dankbar!“

„Es ist ein interessanter und für mich sehr lebensprägender Beruf“, resümiert Willumeit, „ich bin den Schülern sehr dankbar für das, was ich von ihnen zurückbekomme.“ Auch jetzt, da er seit Anfang dieses Jahres im Ruhestand ist, engagiert er sich weiterhin für seine Vision. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er bereits mit Städteplanern und Bauämtern zusammen, seine Meinung zur taktilen und akustischen Gestaltung von Bushaltestellen, Fußwegen oder Plätzen ist bei den zuständigen Stellen gefragt.
Für seine Zukunft hat Willumeit bereits einige Ideen. Ihm ist eine barrierefreie Umwelt- und Verkehrsraumgestaltung wichtig, hier möchte er sich weiterhin einsetzen, um Strukturen zu bilden, die Autonomie für blinde und sehbehinderte Menschen ermöglichen. Zum neuen Schuljahr kehrt er sogar für einige Monate an seine Schule zurück, um dort zu unterrichten. „Sogar von einer Auslandsorganisation gibt es eine Anfrage, ob ich nach Kambodscha gehen und dort unterstützen kann.“

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