Die Wahl fällt auf ein Video, in dem eine Mutter zweier Kinder vom Alltag erzählt. „Unser Frühstück diese Woche.“, lautet die Überschrift. Frühstück ist ja eigentlich etwas Banales. Ein ganz und gar nicht banaler Eindruck entsteht jedoch in den zahlreichen Kommentaren zu diesem 30-Sekunden-Video, in dem Toasts geschmiert und Äpfel geschnitten werden.
„So was Ungesundes!“, „Klassische Helikoptermutter. Dein Kind kann das doch schon selbst.“

Ein Beitrag von Mia Schwind

Mom Shaming, was ist das?

Was hier beschrieben wird, kann auch unter den Begriff Mom Shaming fallen. Mom Shaming, auch Mom Bashing genannt, bedeutet das Kritisieren von Müttern aufgrund ihrer Entscheidungen oder Verhaltensweisen. Mom Shaming ist omnipräsent, es passiert immer, überall und wird von allen denkbaren Menschen betrieben: Seien es vorwurfsvolle Fragen anderer Mamas auf dem Spielplatz aufgrund der Essensauswahl, über ungefragte Erziehungsratschläge der Kollegin bis hin zu Kommentaren der Schwiegermutter auf dem Weihnachtsfest der Familie. Auch Blicke von Fremden in der Bahn, wenn das eigene Kind unruhig ist, senden für die betreffende Mutter eine Botschaft aus, die vom Grundsatz negativ ist: So wie Du es machst, ist es falsch. Die Reaktionen darauf sind ebenso negativ, etwa der Drang, sich rechtfertigen zu müssen oder Unsicherheit. Treffen kann es jede Mutter, Prominenz, Beruf, Alter, sind hierbei gleichgültig.
Das Mütter immer schon für das, was sie tun oder auch nicht tun, kritisiert werden, ist nicht neu. Jede Generation hat ihre eigenen Vorstellungen von Mutterschaft oder Erziehung, und Eltern sein machen Menschen verletzbar. Der Begriff Mom Shaming wird genutzt, wenn es um dieses Thema geht und damit verbunden, wenn die Belastung von Müttern aufgrund stetig steigender Erwartungen zunimmt. Soziale Netzwerke würden diesen Entwicklungstrend maßgeblich mit beeinflussen. Eine weitere Vermutung ist, dass über dieses Thema mehr gesprochen wird als früher, besonders von betroffenen Müttern.

Hintergründe: Wie kommt es zum Mom Shaming?

Der Blick auf diejenigen, die Mom Shaming ‚betreiben‘, führt zu einem Grundbedürfnis des Menschen, wie Nicole Wilhelm (Familienberaterin und Familylab Trainerin) erklärt: „Es geht vor allem um Sicherheit in einer komplexer werdenden Welt und das Kompensieren eigener Verletzungen des Selbstbildes oder Selbstwertgefühls. Durch das Kritisieren wird diese Komplexität versucht auf ein Richtig-Falsch Bild zu reduzieren. Außerdem bringt es kurzfristig Entlastung von eigenen Selbstzweifeln, wenn der/die Kritisierende sich selbst aufwertet, indem er andere abwertet. So entsteht für denjenigen das Selbstbild: Diese Person macht es falsch, ich mache es richtig.“ Das ist zunächst eine erklärbare Reaktion auf eine Welt, die unendlich viele Orientierungspunkte bietet. Sie ist nur für keine beider ‚Seiten‘ von Mom Shaming produktiv. Kritik führt uns hin zu anderen, weniger zu uns selbst. Zurück bleibt nur die Wut über die ‚Rabenmutter‘ bei denen, die Kritisieren, und Unsicherheit und Stress bei der kritisierten Mutter. Ein besserer Umgang mit Komplexität wäre positiv geprägt: „Ambivalenz und Differenz annehmen, aushalten und nicht bewerten ist eine Schlüsselkompetenz für ein sicheres Selbstbild und demensprechend auch gute Beziehungen. In der Kommunikation sollte es eine Grundintuition des Miteinanders geben. Jede Mutter und Vater wollen das Beste für ihr Kind und geben alles dafür. Statt jemandem zu sagen, wie er zu sein hat, kann man aus Ich-Botschaften Wünsche ausdrücken oder andere Wege anbieten. ‚Was kann ich dazu beitragen, damit es Eltern besser geht?‘, ist eine produktive Frage“, rät Wilhelm.

Welche Rolle spielen Soziale Medien?

Social Media Plattformen wie Facebook oder Instagram: Auf ihnen ist es fast unmöglich, sich nicht zu vergleichen. Genauso unmöglich ist es, Profile von Mamas mit einer großen Followeranzahl zu finden, in denen die Profilbetreiberin nicht in jedem ihrer Beiträge kritisiert wird. Zeigt sie sich in Form eines professionellen Fotos, mit schicken Klamotten und Kinderwagen beim Spaziergang im Park: Selbstbezogen und nur auf Klicks aus. Eine ‚Mom Influencerin‘ zeigt das unaufgeräumte Kinderzimmer, den Wäscheberg und ihr fleckiges Outfit unter dem Hashtag #mehrrealitätaufinstagram. Auch hier sind die Kommentare schnell forsch: „Na, das muss doch nicht so aussehen. Du arbeitest doch nicht, da wird man ja wohl für so etwas Zeit haben.“ Die Moral von der Geschicht‘? Falsch macht man’s immer.

Social Media ist ein Ort, an dem es nicht nur um Positivität und Miteinander geht. Die Forschung steht hier noch am Anfang, erste Vermutungen legen aber bereits einen Zusammenhang von Social Media und Persönlichkeits-, Ess- oder Selbstbildstörungen nahe. Auch Nicole Wilhelm hält beim Thema Mom Shaming Plattformen wie Instagram für nicht förderlich: „Auf Social Media geht es häufig um Bewertung. Das passiert zwar im realen Leben auch, aber diese Bewertung bleibt in Form von Kommentaren da. Insbesondere ‚Mom Influencer‘ nehmen hier eine Rolle ein, die man differenziert betrachten muss. Sie sind keinesfalls die Schuldigen beim Thema Mom Shaming. Sie bieten aber allzeit ein Optimum. Man vergleicht sich mit diesem Optimum und fühlt sich schlecht.“ Dagegen könnte man anmerken: Mittlerweile ist doch klar, dass auf Instagram nicht das reale Leben gezeigt wird. Wilhelm meint dazu: „Es ist schwer möglich, sein rationales und sein emotionales Erleben zu trennen. Ja, der Verstand weiß, dass die Inhalte nicht die Realität abbilden. Unbewusst machen diese Inhalte trotzdem etwas mit unserem Gefühl, wir beziehen die Inhalte auf uns selbst, vergleichen uns und sind am Ende und das Gefühl der Unsicherheit oder Unzufriedenheit kann sich einstellen.“

Was macht Mom Shaming mit dem Umfeld?

Wie wir uns selbst sehen, dringt unweigerlich nach außen. Die Menschen, die uns am nächsten sind, merken, wie es uns geht. Besonders feine ‚Antennen‘ haben Kinder: „Wenn die Mutter durch Mom Shaming Situationen gestresst ist, registriert das Kind diesen Stress, verarbeitet ihn aber anders als Erwachsene. Besonders jüngere Kinder können diesen Stress von sich selbst nicht abgrenzen und haben das Gefühl: ‚Ich bin der Stress, ich bin die Belastung.‘ Um damit klarzukommen, entwickeln die Kinder auf Dauer verschiedene Verhaltensmuster, von starkem Gehorsam bis hin zu (auto)aggressivem Verhalten.“, sagt Nicole Wilhelm. Für sie ist bei heterosexuellen Beziehungen der Mann beim Thema Mom Shaming ein weiterer Faktor, der mitunter auch helfen kann: „In meiner beruflichen Praxis habe ich oft von Männern einen anderen Umgang mit Mom Shaming erlebt, wenn sie mit diesem Phänomen in Kontakt kamen. Sie reagierten auf Kritik weniger, nahmen sie nicht persönlich. Besonders wenn die betreffende Mutter mit ihrem Partner über ihre Mom Shaming Erfahrungen spricht, könnte es eine wichtige Resonanz sein, dass der Partner pragmatisch reagiert und Selbstvertrauen in sich und seine Partnerin zeigt. Das kann für Stabilität sorgen.“

(Wie) kann man sich vor Mom Shaming schützen?

Zur Zielscheibe wird eine Mutter schnell. Aber kann diese Zielscheibe einfach abgelegt werden? Im Alltag ist das schwierig, aber in der digitalen Welt schon eher umsetzbar. „Ich würde empfehlen, einen achtsamen Umgang mit der Nutzung sozialen Medien zu üben. Komplett aus Social Media auszusteigen erscheint unrealistisch. Man kann aber aktiv werden, indem man mit einem Selbsttest ausprobiert, ob der teilweise oder komplette Verzicht für einen gewissen Zeitraum guttut. Davon abgesehen ist es beim Thema Mom Shaming wichtig, weiterhin darüber zu sprechen und aufzuzeigen, warum es so problematisch ist. Erst mit dem Austausch kann das Problem wahrgenommen, ernstgenommen und anschließend auch reduziert werden. Reduzieren lässt sich Mom Shaming laut Nicole Wilhelm auch von scheinbar Unbeteiligten: „Wichtig ist, nicht ‚mitzulästern‘. Wenn jemand während eines Gesprächs schlecht über eine Mutter spricht, kann man deutlich machen, dass man sich daran nicht beteiligen möchte und die Person da an der falschen Adresse ist. Man wird somit nicht zu einem Part, der Mom Shaming reproduziert.“ Außerdem ist beim Thema Mom Shaming zentral: Sprache ist Macht. Wenn wir uns dazu entscheiden, eine Mutter etwas zu fragen, kann das Wie einen großen Unterschied machen. Die Worte, die wir wählen, prägen unsere Vorstellungen von Normalität. Ein Beispiel: Die Frage nach der Art, wie die Mutter ihr Kind geboren hat. Statt zu fragen: „Darf ich fragen, ob Du normal/natürlich oder per Kaiserschnitt entbunden hast?“ kann die Frage lauten: „Wie war die Geburt für dich?“ Das bietet eine möglichst neutrale Basis für eine Antwort.
Frau Wilhelms abschließende Worte an alle Mütter: „Es gibt kein falsch oder richtig, es gibt nur ein verschieden. Vertraut euch selbst!“

Dr. Nicole Wilhelm

Expertin:
Frau Dr. Nicole Wilhelm
Konflikt- und Prozessbegleitung für Eltern,
ErzieherInnen und LehrerInnen, Autorin

Weiterführendes:
Faces Of Moms– Plattform für Mütter, Ziel ist, Mutterschaft ehrlich darzustellen und auf problematische Strukturen (fehlende Kitaplätze etc.)

Filmempfehlung:
„Good enough parents“ und
„Liebe, Wut und Milchzähne“

Buchempfehlung:
Noller, Stanczak: Bis eine* weint.
Ehrliche Interviews mit Müttern zu Gleichbererechtigung, Care-Arbeit und Rollenbildern.
Bundeszentrale für politische Bildung/ Bonn. 2023.