Zum Einstieg ein paar Titel aktueller Ratgeberliteratur: „Teenager-Hirn: Was in der Pubertät im Kopf Ihres Kindes los ist – Survival-Guide für geplagte Eltern“ – „Was denkt mein Teenager?“ – „How To Survive mit Teenager: Wie Sie die Pubertät Ihres Kindes ohne bleibende Schäden überleben“. Die Formulierungen erwecken den Eindruck, es gehe bei der Pubertät um die Invasion einer bedrohlichen außerirdischen Spezies oder um einen bedenklichen pathologischen Zustand.

Klar, das ist natürlich überspitzt formuliert, aber in der Tat geht es turbulent zu in dieser Zeit zwischen Kindheit und Erwachsen-Sein – im Körper und im Kopf unserer Kinder ebenso wie im Innengefüge unserer Familie. Es sind psychische, emotionale und soziale Veränderungen, die den jungen Menschen durcheinanderwirbeln, er muss mit einer verwirrenden körperlichen Verwandlung zurechtkommen und außerdem in seine neue soziale Identität hineinwachsen. Trotzdem bleibt er oder sie natürlich unser vertrautes, geliebtes und liebenswertes Kind; das sollten wir trotz aller Schwierigkeiten nicht vergessen.

Großbaustelle Gehirn

Nicht nur der Körper verändert sich im Verlauf der Pubertät, auch das Gehirn wird massiv umgebaut. Und hier ist auch die Erklärung für manches „typische“ Teenager-Verhalten zu finden. Hormonbedingt verändern sich nämlich sowohl die Strukturen als auch die Kommunikation zwischen den Hirnarealen. Dass viele Jugendliche beispielsweise abends bis in die Puppen wach sind und morgens nicht aus dem Bett kommen, hat damit zu tun, dass in der Pubertät das Schlafhormon Melatonin immer später ausgeschüttet wird. Gefühlsschwankungen entstehen, weil der emotionale Hirnbereich auf hormonelle Stimulation besonders stark reagiert und daher hyperaktiv ist, das regulierende rationale Kontrollsystem aber noch längst nicht ausgereift ist. Auch manches Lern- oder Konzentrationsproblem lässt sich auf die „Baumaßnahmen“ zurückführen. Wichtige Informationen aus unwichtigen herauszufiltern oder unterschiedliche Aufgaben gleichzeitig zu lösen, dazu ist das Gehirn noch nicht optimal in der Lage. Bei Risikoentscheidungen werden Jugendliche stärker von den Vergnügungsregionen ihres Gehirns gesteuert. So treibt sie die Chance einer positiven Ausbeute zu gewagten Aktionen, während ihnen das regulierende Bauchgefühl noch fehlt.
All das sind biologische Vorgänge, die Generationen von Heranwachsenden bewältigen mussten. Die derzeitigen Teenager-Jahrgänge aber haben aufgrund der aktuellen Krisen wie Corona und Ukraine-Krieg noch mehr Päckchen zu schultern: Schulschließungen, der fehlende Kontakt mit Gleichaltrigen, Vereinsamung, Existenz- und Zukunftsangst sorgen für besondere Verunsicherung, Belastung und manchmal auch psychische Erkrankungen.

Konfliktträchtiger Alltag

Eltern pubertierender Kinder kennen die typischen Konflikte im Familienalltag gut. Da gibt es Rebellion gegen Regeln in allen Bereichen: Die Tischgewohnheiten der Kindheit werden ebenso in Frage gestellt wie der Sinn von Hausaufgaben und abendlichen Heimkommzeiten. Wir erleben Ich-Bezogenheit – „Keiner versteht mich!“, „Warum immer ich?“ – und unberechenbare Launen, Kratzbürstigkeit wechselt mit Anhänglichkeit, ein unbedachtes Wort führt zum Weinkrampf oder Wutausbruch. Das macht den Umgang mit einem heranwachsenden Kind manchmal kompliziert.

Notwendiger Ablösungsprozess

Wer von einer Attacke seines Kindes kalt erwischt wird, tut sich sicher schwer, in diesem Ausraster einen Sinn zu erkennen. Aber: Die Pubertät ist eine wichtige und sinnvolle Entwicklungsphase, und so manches anstrengende Teenager-Verhalten gehört zum Erwachsenwerden notwendig dazu.

Mit der Pubertät …
werden die Erziehungsbeziehungen neu gestaltet, es entsteht in der Familie ein neues, anderes Miteinander.

Teenager befinden sich in einem Ablöseprozess und müssen die eigenen Eltern abwerten, um sich von ihnen lösen zu können – wer verlässt schon gerne das Paradies? Das Finden des eigenen Standpunktes, das Festlegen einer eigenen Identität gelingt zunächst am leichtesten, indem man eine Oppositionshaltung einnimmt. Auch das Ausprobieren verschiedener Rollen (gewagtes Äußeres, Macho-Gehabe) und Abtauchen in Cliquen dient dazu, das eigene Ich zu entwickeln. Und manchmal genauso der Provokation: Wie weit kann ich gehen, bevor man mir Grenzen setzt? Welche Normen hält mein Umfeld für so wichtig, dass es sie auch gegen meinen Widerstand durchsetzt? Auch die Familienbeziehung wird so auf die Probe gestellt: Welche Belastungen hält sie aus; werde ich auch angenommen, wenn ich mich maßlos verhalte? In einer Phase, in der die oder der Jugendliche ihrer beziehungsweise seiner selbst nicht sicher ist, dienen die Abgrenzung nach außen und der Rückzug von sozialen Kontakten auch als Schutzmaßnahme, um nicht verletzt oder aus der mühsam gefundenen Fassung gebracht zu werden. Und nicht zuletzt sorgen wachsende kritisch-analytische Fähigkeiten dafür, dass Sohn oder Tochter nicht mehr widerspruchslos jedes Argument der Eltern akzeptiert.

Auch die Eltern müssen sich umstellen, wenn der Nachwuchs flügge wird. Das fängt mit einer flexiblen Anpassung von Familienregeln an, bedeutet aber auch eine Neubestimmung der eigenen Position: Die Kinder brechen voller Energie zu neuen, vielversprechenden Ufern auf, während man selbst Kurs auf Wechseljahre und Midlife-Crisis nimmt. Das kratzt am Ego … Eltern, die bisher bis zur Selbstaufopferung in der Erziehung aufgegangen sind, erschweren jetzt ihrem Kind die Ablösung, weil es spürt, dass die Eltern ohne Lebensinhalt zurückbleiben. Eine Paarbeziehung dagegen, die sich nicht nur auf die gemeinsame Elternschaft reduziert, ist für einen Jugendlichen nicht nur ein brauchbares Vorbild für erfüllte Partnerschaft, sondern signalisiert ihm zugleich, dass er nicht für das Wohl der Eltern verantwortlich ist.

Mit der Pubertät werden die Erziehungsbeziehungen neu gestaltet, es entsteht in der Familie ein neues, anderes Miteinander. Das Kind ist jetzt ein innerlich unabhängiger Mensch mit eigener Identität. Das müssen Eltern akzeptieren. Dass Eltern dabei nicht immer den richtigen Ton treffen, sie also in der Erziehung so manchen Fehler machen, ist aber ganz normal. Und nicht weiter tragisch. Ganz im Gegenteil: Nicht-perfekte Eltern, die mit Niederlagen umgehen können, sind für Heranwachsende die besseren, weil lebensechteren Vorbilder.

Ein Blick auf die No-Gos im Infokasten ist vielleicht trotzdem interessant. Und wer wissen will, wie man auch im Pubertätschaos zu einem guten Miteinander finden kann, erhält im Interview Ratschläge von zwei systemischen Beraterinnen der Beratungsstelle Groß-Umstadt.

NO-GOs

Was wir im Umgang mit Teenagern vermeiden sollten (und wie es besser gehen kann)

Explodieren, Vorwürfe machen:

Besser kurz durchatmen, aus der Situation gehen, später die Botschaft klar und sachlich vermitteln. Immer nur falsches Handeln kritisieren, aber nicht das Kind als Ganzes.
Strafen verhängen: Sie scheitern meist ohnehin an der Durchsetzbarkeit und werden (nicht ganz zu Unrecht) als Willkür und Machtdemonstration interpretiert. Vielleicht kann man nächstes Mal im Vorfeld gemeinsame Regelungen vereinbaren – und auch die Konsequenz, wenn sie nicht eingehalten werden.

Verbote aussprechen:

Oft sind sie gar nicht mehr altersgemäß. Hilfreich ist vielmehr ein Vertrauensvorschuss, sodass das Kind seine Zuverlässigkeit unter Beweis stellen und Selbstständigkeit einüben kann.
Nachgeben und sich alles gefallen lassen: Denn dann werden die Provokationen zunehmen. Wir dürfen und sollen unsere Grenzen und Bedürfnisse klar artikulieren.
Probleme als „Phase“ abtun: Damit fühlt sich der Teenager nicht ernst genommen, geholfen wird ihm so nicht. Sehen Sie die Person hinter dem Verhalten und bleiben Sie respektvoll.

Sich in Machtkämpfe verstricken:

In unkritischen Streitpunkten sollten wir auch mal nachgeben, entscheidend sind doch Sachlösungen. Stur Ratgeber- und Podcast-Tipps abarbeiten:
Lieber authentisch bleiben und die spezifische Familiensituation im Blick behalten. Und die eigenen Gefühle artikulieren.

Sich resigniert zurückziehen:

Besser immer wieder Gesprächsangebote machen, denn entgegen allem Anschein wollen und brauchen Teenager Eltern, die verlässlich für sie da sind und auch Position beziehen.
Angriffe persönlich nehmen: Es geht nicht gegen Sie, aber an wem soll sich Ihr Kind sonst reiben, um seine Identität zu finden?

Schwarzsehen:

Die Teenager-Zeit birgt so viel Positives, Ihr Kind hat jetzt großes Potenzial, ist kreativer, idealistischer, erfindungsreicher als je zuvor und danach!

www.bke-elternberatung.de
der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V.

Dort auch kostenlose Online-Beratung Seiten für Jugendliche: www.bke-jugendberatung.de

(kostenlose-Online-Beratung), www.loveline.de der  Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Vor Ort bieten die Erziehungsberatungsstellen u. a. in Darmstadt, Bensheim, Groß-Gerau, Groß-Umstadt, Ober-Ramstadt und Pfungstadt Eltern, Jugendlichen und Kindern Beratung.

Interview: Leuchtturm sein in schwierigen Zeiten

Helen Mannert (Leitung) und Frauke Euler sind systemische Beraterinnen bei der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in Groß-Umstadt. Das Team versteht sich als Ressource für Familien zu allen Lebensthemen und Fragen des Miteinanders. Wir haben mit den beiden Fachfrauen gesprochen.

1. Mit welchen Problemen kommen Eltern von Teenagern in die Beratungsstelle?

Frauke Euler: Es gibt einige typische Themenfelder. Zum einen ist es der Bereich Schule, Ausbildung, Beruf – auf dieser Reflexionsfläche herrscht oft Orientierungslosigkeit; Eltern fragen sich: Können wir unser Kind richtig begleiten? Seit der Corona-Pandemie ist auch jetzt noch der Wiedereinstieg in den Präsenzunterricht ein großes Thema. Daneben wirft der Medienkonsum der Jugendlichen bei vielen Eltern Fragen auf: Wie viel ist normal, wann wird das Handy zur Sucht? Und zuletzt kommen Eltern zu uns, die verunsichert sind von den Veränderungen ihrer Kinder, die das Gefühl haben, sie nicht mehr zu kennen und den Kontakt zu ihnen zu verlieren.

2. Stichwort Kontakt: Haben Sie Tipps für ein möglichst harmonisches Miteinander in dieser schwierigen Zeit?

Helen Mannert: Zunächst ist Rückzug ja ein wichtiger Entwicklungsschritt für die Jugendlichen. Sie brauchen Ruhe, Zeit und Energie, um sich neu zu sortieren. Zugleich verändert sich auch die Familienbeziehung, die Gleichaltrigen werden immer wichtiger und Eltern müssen anerkennen, dass sie nicht mehr alles im Leben ihrer Kinder verstehen.
Es gilt, eine Balance zu finden zwischen Autonomie und Bindung: die Heranwachsenden machen lassen, aber auch versuchen, in Kontakt zu bleiben. Da gibt es keine perfekte Lösung. Familien sollten die Themen immer wieder neu miteinander verhandeln, und zwar auf Augenhöhe. Denn die Jugendlichen haben einen Anspruch darauf, ernst genommen zu werden.
Frauke Euler: Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch Selbstfürsorge. Ich sollte als Mutter oder Vater wissen, was mir guttut und was mir wichtig ist, mein Akku sollte aufgeladen sein. Nur so kann ich meine Werte auch vermitteln. Und kann trotz aller Veränderungen neugierig auf mein Kind bleiben. Selbst wenn es manchmal schwierig ist, kann man immer wieder Gesprächsanlässe bieten, um in Kontakt zu bleiben; mit echtem Interesse nachfragen, ohne aushorchen zu wollen, und dabei auch von sich selbst erzählen. Kleine liebevolle Gesten, wie das Lieblingsessen zu kochen oder ein gemeinsames schönes Wochenende, können der Tochter, dem Sohn zeigen: Du bist mir wichtig!

Helen Mannert: Konflikte werden von vielen Menschen ja als schwierig und negativ empfunden. Doch sie sind wichtig für den Wachstumsprozess und zeigen, dass sich hier ein selbstbestimmter Mensch mit eigener Haltung entwickelt. Es ist also normal und gut, wenn sich Jugendliche trauen, diese Konflikte auszutragen. Denn sie reiben sich nur an den Eltern, weil sie sich der Beziehung zu ihnen sicher sind, weil sie wissen, dass ihr Verhältnis das aushält.
Eltern sind für ihre Kinder Vorbilder und Leuchttürme, die auch bei schwerem Seegang Orientierung geben können. Das heißt zugleich, dass die Eltern die Verlässlichkeit, die sie einfordern, auch selbst bieten sollten. Wenn man als Elternteil mal zu impulsiv war, ist es sinnvoll, auf den Jugendlichen zuzugehen und eigene Fehler einzugestehen. So bleibt man glaubhaft und authentisch.

3. Und wie sollten Eltern bei Grenzüberschreitungen reagieren?

Helen Mannert: Wenn Kinder Grenzen überschreiten, kann man überlegen, welche Bedürfnisse dahinterstehen. Oft gibt es gute Gründe für das Verhalten. Wir Erwachsenen ordnen es schnell in unsere „Schublade“, in unsere „Landkarte“, aber wir kennen die „Landkarte“ unseres Kindes gar nicht. Wir können unser Kind stattdessen fragen: Wie kam es dazu, was ist der Grund für dein Verhalten? Statt Sanktionen und Konsequenzen kann man dann gemeinsam überlegen, wie der Konfliktpunkt für beide besser werden kann. Wenn die Dinge sehr schräg laufen oder Gefahr droht, sollten Eltern nicht ihre Machtposition herauskehren, sondern dem Kind im positiven Sinne „auf die Pelle rücken“: Was ist los bei dir? Ich sorge mich, und du bist mir wichtig! Was du tust, geht gegen meine Werte. Und statt der beim Erziehen immer wieder empfohlenen Auszeit („Time-out“) sollten wir eher „Time-in“ praktizieren: hinschauen und in Kontakt bleiben. Eine wachsame Sorge ohne permanente Kontrolle ist da ein guter Weg.

Im Übrigen hat die Jugend ein Recht auf Eskapaden. Grenzüberschreitungen und riskantes Verhalten gehören in diesem Lebensalter einfach dazu.

Wichtig: Auch Kinder und Jugendliche können sich jederzeit an die Beratungsstelle wenden, auch schon frühzeitig, wenn sich ein Problem entwickelt. Sie haben einen Rechtsanspruch auf Beratung und bekommen bevorzugt und zeitnah einen Termin! Gemeinsam kann man über Verunsicherung sprechen und die Situation sortieren.

Buch-Tipp

Melanie Hubermann,
Leuchtturmeltern: Wie wir Kindern
in der Pubertät Orientierung geben,
dtv 2021, 18 Euro.